Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch- lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens, indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich- keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen, es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung. Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge- ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi- duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte (und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von diesen -- wenn die Bedingungen günstig sind -- ausge- bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch besondere Anwendung wiederum sich specialisirend; -- alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. -- Der Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht- Thuns. Ideelle Möglichkeiten -- ideeller Stoff. Die Finger des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit. Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10
§ 20.
Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch- lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens, indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich- keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen, es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung. Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge- ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi- duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte (und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von diesen — wenn die Bedingungen günstig sind — ausge- bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch besondere Anwendung wiederum sich specialisirend; — alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. — Der Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht- Thuns. Ideelle Möglichkeiten — ideeller Stoff. Die Finger des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit. Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0181"n="145"/><divn="3"><head>§ 20.</head><lb/><p>Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch-<lb/>
lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille<lb/>
schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes<lb/>
als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens,<lb/>
indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und<lb/>
unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen<lb/>
Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich-<lb/>
keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject<lb/>
des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie<lb/>
identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse<lb/>
eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner<lb/>
Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und<lb/>
zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen,<lb/>
es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen<lb/>
und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung.<lb/>
Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge-<lb/>
ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi-<lb/>
duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt<lb/>
hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte<lb/>
(und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von<lb/>
diesen — wenn die Bedingungen günstig sind — ausge-<lb/>
bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, <hirendition="#g">durch</hi><lb/>
Uebung und Gebrauch sich <hirendition="#g">verstärkend</hi>, oder durch<lb/><hirendition="#g">besondere</hi> Anwendung wiederum sich <hirendition="#g">specialisirend</hi>;<lb/>— alle solche Arbeit seiner Vorfahren <hirendition="#g">wiederholt</hi> aber<lb/>
das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine<lb/>
eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. — Der<lb/>
Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres<lb/>
Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder<lb/>
Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht-<lb/>
Thuns. Ideelle Möglichkeiten — ideeller Stoff. Die Finger<lb/>
des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen<lb/>
sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit.<lb/>
Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht<lb/>
seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als<lb/>
seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert<lb/>
er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine<lb/>
Kraft; bis zu diesem Moment <hirendition="#g">konnte</hi> er noch (gemäss<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Tönnies</hi>, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[145/0181]
§ 20.
Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch-
lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille
schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes
als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens,
indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und
unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen
Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich-
keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject
des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie
identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse
eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner
Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und
zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen,
es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen
und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung.
Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge-
ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi-
duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt
hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte
(und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von
diesen — wenn die Bedingungen günstig sind — ausge-
bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch
Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch
besondere Anwendung wiederum sich specialisirend;
— alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber
das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine
eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. — Der
Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres
Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder
Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht-
Thuns. Ideelle Möglichkeiten — ideeller Stoff. Die Finger
des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen
sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit.
Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht
seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als
seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert
er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine
Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/181>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.