wüßte, wie viele Menschen ich binnen Jahresfrist durch mei[] Unbesonenheit beleidiget habe!
Zugegeben, daß einige mir zu viel thun, so bleibt es do[ - 2 Zeichen fehlen] unleugbar, daß meiner Verbindlichkeiten gegen den Nächsten ein[ - 1 Zeichen fehlt]/> unabsehliche Reihe ist. Alle haben ein Recht dazu, daß ich sie wi[ - 1 Zeichen fehlt] mich selber lieben soll; jeder aber hat auch noch besondre Fode[ - 1 Zeichen fehlt]/> rungen an mich, vom treuen Ehegatten an bis zum hämische[n] Verläumder. Der Bettler unter meinem Fenster kan von mir so wol beleidiget werden, als mein Landesherr auf seinem Throne. Soll der Handwerker mit Lust für mich arbeiten, die Wittwe ohne Seufzen mich vor Gott nennen; sollen meine Freunde und Hausgenossen mit leichten Herzen jetzt Gott für den zurückgeleg- ten Tag danken: so muß ich ihnen sämtlich gegeben haben, was sie als meine Mitmenschen, ja noch mehr! was sie als meine Brüder in Christo, als Glieder unsers gemeinschaftlichen Haupts, als Erlösete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver- langen konten!
Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich auch meine heutige Betrachtung beschliessen. Wie weit bin ich noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Christenthum so ernstlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menschenfreund, Herr Jesu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder schelten, wann ich gescholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit üben an jedermann! Nie müsse ich von meinem Nächsten eine Tugend erwarten, die ich selbst nicht ausüben mag! Nie mein Temperament für das glücklichste, meinen Verstand für den glän- zendsten und meinem Umgang für den gefälligsten halten! Einen jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und so hoch als mög- lich zu schätzen: das sey mir Ruhm und Pflicht! Rüste mich dazu mit Menschenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm Herzen mit dir auf meinem Lager reden, gesicherter schlafen, und meinen Pilgerweg zum Himmel ungestörter fortsetzen können.
Der
Der 12te Januar.
wuͤßte, wie viele Menſchen ich binnen Jahresfriſt durch mei[] Unbeſonenheit beleidiget habe!
Zugegeben, daß einige mir zu viel thun, ſo bleibt es do[ – 2 Zeichen fehlen] unleugbar, daß meiner Verbindlichkeiten gegen den Naͤchſten ein[ – 1 Zeichen fehlt]/> unabſehliche Reihe iſt. Alle haben ein Recht dazu, daß ich ſie wi[ – 1 Zeichen fehlt] mich ſelber lieben ſoll; jeder aber hat auch noch beſondre Fode[ – 1 Zeichen fehlt]/> rungen an mich, vom treuen Ehegatten an bis zum haͤmiſche[n] Verlaͤumder. Der Bettler unter meinem Fenſter kan von mir ſo wol beleidiget werden, als mein Landesherr auf ſeinem Throne. Soll der Handwerker mit Luſt fuͤr mich arbeiten, die Wittwe ohne Seufzen mich vor Gott nennen; ſollen meine Freunde und Hausgenoſſen mit leichten Herzen jetzt Gott fuͤr den zuruͤckgeleg- ten Tag danken: ſo muß ich ihnen ſaͤmtlich gegeben haben, was ſie als meine Mitmenſchen, ja noch mehr! was ſie als meine Bruͤder in Chriſto, als Glieder unſers gemeinſchaftlichen Haupts, als Erloͤſete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver- langen konten!
Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich auch meine heutige Betrachtung beſchlieſſen. Wie weit bin ich noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Chriſtenthum ſo ernſtlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menſchenfreund, Herr Jeſu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder ſchelten, wann ich geſcholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit uͤben an jedermann! Nie muͤſſe ich von meinem Naͤchſten eine Tugend erwarten, die ich ſelbſt nicht ausuͤben mag! Nie mein Temperament fuͤr das gluͤcklichſte, meinen Verſtand fuͤr den glaͤn- zendſten und meinem Umgang fuͤr den gefaͤlligſten halten! Einen jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und ſo hoch als moͤg- lich zu ſchaͤtzen: das ſey mir Ruhm und Pflicht! Ruͤſte mich dazu mit Menſchenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm Herzen mit dir auf meinem Lager reden, geſicherter ſchlafen, und meinen Pilgerweg zum Himmel ungeſtoͤrter fortſetzen koͤnnen.
Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0063"n="26[56]"/><fwplace="top"type="header">Der 12<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</fw><lb/>
wuͤßte, wie viele Menſchen ich binnen Jahresfriſt durch mei<gap/><lb/>
Unbeſonenheit beleidiget habe!</p><lb/><p>Zugegeben, daß einige mir zu viel thun, ſo bleibt es do<gapunit="chars"quantity="2"/><lb/>
unleugbar, daß meiner Verbindlichkeiten gegen den Naͤchſten ein<gapunit="chars"quantity="1"/>/><lb/>
unabſehliche Reihe iſt. Alle haben ein Recht dazu, daß ich ſie wi<gapunit="chars"quantity="1"/><lb/>
mich ſelber lieben ſoll; jeder aber hat auch noch beſondre Fode<gapunit="chars"quantity="1"/>/><lb/>
rungen an mich, vom treuen Ehegatten an bis zum haͤmiſche<supplied>n</supplied><lb/>
Verlaͤumder. Der Bettler unter meinem Fenſter kan von mir<lb/>ſo wol beleidiget werden, als mein Landesherr auf ſeinem Throne.<lb/>
Soll der Handwerker mit Luſt fuͤr mich arbeiten, die Wittwe<lb/>
ohne Seufzen mich vor Gott nennen; ſollen meine Freunde und<lb/>
Hausgenoſſen mit leichten Herzen jetzt Gott fuͤr den zuruͤckgeleg-<lb/>
ten Tag danken: ſo muß ich ihnen ſaͤmtlich gegeben haben, was<lb/>ſie als meine Mitmenſchen, ja noch mehr! was ſie als meine<lb/>
Bruͤder in Chriſto, als Glieder unſers gemeinſchaftlichen Haupts,<lb/>
als Erloͤſete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver-<lb/>
langen konten!</p><lb/><p>Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich<lb/>
auch meine heutige Betrachtung beſchlieſſen. Wie weit bin ich<lb/>
noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Chriſtenthum<lb/>ſo ernſtlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menſchenfreund,<lb/>
Herr Jeſu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder ſchelten,<lb/>
wann ich geſcholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit<lb/>
uͤben an jedermann! Nie muͤſſe ich von meinem Naͤchſten eine<lb/>
Tugend erwarten, die ich ſelbſt nicht ausuͤben mag! Nie mein<lb/>
Temperament fuͤr das gluͤcklichſte, meinen Verſtand fuͤr den glaͤn-<lb/>
zendſten und meinem Umgang fuͤr den gefaͤlligſten halten! Einen<lb/>
jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und ſo hoch als moͤg-<lb/>
lich zu ſchaͤtzen: das ſey mir Ruhm und Pflicht! Ruͤſte mich dazu<lb/>
mit Menſchenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm<lb/>
Herzen mit dir auf meinem Lager reden, geſicherter ſchlafen, und<lb/>
meinen Pilgerweg zum Himmel ungeſtoͤrter fortſetzen koͤnnen.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[26[56]/0063]
Der 12te Januar.
wuͤßte, wie viele Menſchen ich binnen Jahresfriſt durch mei_
Unbeſonenheit beleidiget habe!
Zugegeben, daß einige mir zu viel thun, ſo bleibt es do__
unleugbar, daß meiner Verbindlichkeiten gegen den Naͤchſten ein_/>
unabſehliche Reihe iſt. Alle haben ein Recht dazu, daß ich ſie wi_
mich ſelber lieben ſoll; jeder aber hat auch noch beſondre Fode_/>
rungen an mich, vom treuen Ehegatten an bis zum haͤmiſchen
Verlaͤumder. Der Bettler unter meinem Fenſter kan von mir
ſo wol beleidiget werden, als mein Landesherr auf ſeinem Throne.
Soll der Handwerker mit Luſt fuͤr mich arbeiten, die Wittwe
ohne Seufzen mich vor Gott nennen; ſollen meine Freunde und
Hausgenoſſen mit leichten Herzen jetzt Gott fuͤr den zuruͤckgeleg-
ten Tag danken: ſo muß ich ihnen ſaͤmtlich gegeben haben, was
ſie als meine Mitmenſchen, ja noch mehr! was ſie als meine
Bruͤder in Chriſto, als Glieder unſers gemeinſchaftlichen Haupts,
als Erloͤſete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver-
langen konten!
Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich
auch meine heutige Betrachtung beſchlieſſen. Wie weit bin ich
noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Chriſtenthum
ſo ernſtlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menſchenfreund,
Herr Jeſu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder ſchelten,
wann ich geſcholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit
uͤben an jedermann! Nie muͤſſe ich von meinem Naͤchſten eine
Tugend erwarten, die ich ſelbſt nicht ausuͤben mag! Nie mein
Temperament fuͤr das gluͤcklichſte, meinen Verſtand fuͤr den glaͤn-
zendſten und meinem Umgang fuͤr den gefaͤlligſten halten! Einen
jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und ſo hoch als moͤg-
lich zu ſchaͤtzen: das ſey mir Ruhm und Pflicht! Ruͤſte mich dazu
mit Menſchenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm
Herzen mit dir auf meinem Lager reden, geſicherter ſchlafen, und
meinen Pilgerweg zum Himmel ungeſtoͤrter fortſetzen koͤnnen.
Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 26[56]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/63>, abgerufen am 29.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.