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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 8te Januar.

Die Frage ist also: wie viel habe ich mich heute gebessert [?]
Welches war mein erst Gefühl, mein erster Gedanke an diesem
Morgen? Ward mir heute jene Tugend leichter, an welche ich
mich noch gestern mit schweren Herzen wagte? War mein Ge-
müth mehr gegenwärtig, wenn sich unvermutet eine Sünde bei
mir eindrängen wolte? Fand ich schon mehr Geschmack am
Worte Gottes, mehr Vergnügen an Vollbringung aller meiner
Pflichten? Wie viel und welche Vorsätze zum Guten entstanden
in mir, und wie führte ich sie aus?

Jedoch, da mir die Rechnung von einem Tage zum andern
zu mühsam, zu unmerklich ist: so will ich Wochen, ich will
Jahre zurücksehen, und den Fortgang meines Christenthums
binnen einer so langen Zeit erforschen.

Wer war ich vor Jahresfrist, und wer bin ich anjetzt?
Bin ich meinem Heilande merklich ähnlicher geworden und dem
Himmel näher gekommen? Haben meine Augen über Sünden
weinen gelernt? Ueber Kleinigkeiten konten sie es längst! Mein
Herz, kan es schon für Liebe wallen, wenn es an Gottes Wohl-
thaten und sonderlich an seine Liebe in Christo Jesu gedenkt?
Ehedem schauderte ich vor Todesgedanken zurück: sind sie mir
jetzt erträglicher? und wann werde ich so weit kommen, daß sie
mir der angenehmste Zeitvertreib seyn? Sonst schämte ich mich
wol gar, öffentlich Christum zu bekennen: würde ich jetzt wol,
zu seiner Vertheidigung, mich den Spöttereien einer witzigen
Gesellschaft aussetzen? Noch mehr: wie viel fehlet mir noch, ehe
ich den Grad der Liebe, den Heldenmuth erreiche, für ihn den
Märtirertod sterben zu können? Ach! verschone mich, mein
Erlöser! mit dieser harten Probe; denn ich bin nur noch ein
strauchelndes Kind. Aber präge du mir jetzt die Pflicht aufs
neue ein, daß ich täglich im Guten wachsen, und mich stets in-
niger mit dir vereinigen müsse. Dies soll, wenn ich den Mor-
gen erlebe, von nun an mein Hauptaugenmerk seyn!

Der
Der 8te Januar.

Die Frage iſt alſo: wie viel habe ich mich heute gebeſſert [?]
Welches war mein erſt Gefuͤhl, mein erſter Gedanke an dieſem
Morgen? Ward mir heute jene Tugend leichter, an welche ich
mich noch geſtern mit ſchweren Herzen wagte? War mein Ge-
muͤth mehr gegenwaͤrtig, wenn ſich unvermutet eine Suͤnde bei
mir eindraͤngen wolte? Fand ich ſchon mehr Geſchmack am
Worte Gottes, mehr Vergnuͤgen an Vollbringung aller meiner
Pflichten? Wie viel und welche Vorſaͤtze zum Guten entſtanden
in mir, und wie fuͤhrte ich ſie aus?

Jedoch, da mir die Rechnung von einem Tage zum andern
zu muͤhſam, zu unmerklich iſt: ſo will ich Wochen, ich will
Jahre zuruͤckſehen, und den Fortgang meines Chriſtenthums
binnen einer ſo langen Zeit erforſchen.

Wer war ich vor Jahresfriſt, und wer bin ich anjetzt?
Bin ich meinem Heilande merklich aͤhnlicher geworden und dem
Himmel naͤher gekommen? Haben meine Augen uͤber Suͤnden
weinen gelernt? Ueber Kleinigkeiten konten ſie es laͤngſt! Mein
Herz, kan es ſchon fuͤr Liebe wallen, wenn es an Gottes Wohl-
thaten und ſonderlich an ſeine Liebe in Chriſto Jeſu gedenkt?
Ehedem ſchauderte ich vor Todesgedanken zuruͤck: ſind ſie mir
jetzt ertraͤglicher? und wann werde ich ſo weit kommen, daß ſie
mir der angenehmſte Zeitvertreib ſeyn? Sonſt ſchaͤmte ich mich
wol gar, oͤffentlich Chriſtum zu bekennen: wuͤrde ich jetzt wol,
zu ſeiner Vertheidigung, mich den Spoͤttereien einer witzigen
Geſellſchaft ausſetzen? Noch mehr: wie viel fehlet mir noch, ehe
ich den Grad der Liebe, den Heldenmuth erreiche, fuͤr ihn den
Maͤrtirertod ſterben zu koͤnnen? Ach! verſchone mich, mein
Erloͤſer! mit dieſer harten Probe; denn ich bin nur noch ein
ſtrauchelndes Kind. Aber praͤge du mir jetzt die Pflicht aufs
neue ein, daß ich taͤglich im Guten wachſen, und mich ſtets in-
niger mit dir vereinigen muͤſſe. Dies ſoll, wenn ich den Mor-
gen erlebe, von nun an mein Hauptaugenmerk ſeyn!

Der
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[18[48]/0055] Der 8te Januar. Die Frage iſt alſo: wie viel habe ich mich heute gebeſſert ? Welches war mein erſt Gefuͤhl, mein erſter Gedanke an dieſem Morgen? Ward mir heute jene Tugend leichter, an welche ich mich noch geſtern mit ſchweren Herzen wagte? War mein Ge- muͤth mehr gegenwaͤrtig, wenn ſich unvermutet eine Suͤnde bei mir eindraͤngen wolte? Fand ich ſchon mehr Geſchmack am Worte Gottes, mehr Vergnuͤgen an Vollbringung aller meiner Pflichten? Wie viel und welche Vorſaͤtze zum Guten entſtanden in mir, und wie fuͤhrte ich ſie aus? Jedoch, da mir die Rechnung von einem Tage zum andern zu muͤhſam, zu unmerklich iſt: ſo will ich Wochen, ich will Jahre zuruͤckſehen, und den Fortgang meines Chriſtenthums binnen einer ſo langen Zeit erforſchen. Wer war ich vor Jahresfriſt, und wer bin ich anjetzt? Bin ich meinem Heilande merklich aͤhnlicher geworden und dem Himmel naͤher gekommen? Haben meine Augen uͤber Suͤnden weinen gelernt? Ueber Kleinigkeiten konten ſie es laͤngſt! Mein Herz, kan es ſchon fuͤr Liebe wallen, wenn es an Gottes Wohl- thaten und ſonderlich an ſeine Liebe in Chriſto Jeſu gedenkt? Ehedem ſchauderte ich vor Todesgedanken zuruͤck: ſind ſie mir jetzt ertraͤglicher? und wann werde ich ſo weit kommen, daß ſie mir der angenehmſte Zeitvertreib ſeyn? Sonſt ſchaͤmte ich mich wol gar, oͤffentlich Chriſtum zu bekennen: wuͤrde ich jetzt wol, zu ſeiner Vertheidigung, mich den Spoͤttereien einer witzigen Geſellſchaft ausſetzen? Noch mehr: wie viel fehlet mir noch, ehe ich den Grad der Liebe, den Heldenmuth erreiche, fuͤr ihn den Maͤrtirertod ſterben zu koͤnnen? Ach! verſchone mich, mein Erloͤſer! mit dieſer harten Probe; denn ich bin nur noch ein ſtrauchelndes Kind. Aber praͤge du mir jetzt die Pflicht aufs neue ein, daß ich taͤglich im Guten wachſen, und mich ſtets in- niger mit dir vereinigen muͤſſe. Dies ſoll, wenn ich den Mor- gen erlebe, von nun an mein Hauptaugenmerk ſeyn! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 18[48]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/55>, abgerufen am 13.06.2024.