Jch werde wol bald aufbrechen und sterben -- so können auch blühende Kinder sagen. Denn in dieser Welt kan alles nur nach Stunden und Nachtlager berechnet werden. Jch habe heute noch ein Bette: aber morgen vieleicht einen Sarg. Und o! wie fremde alsdann! Wie unangenehm ist mein Leichnam, selbst meinen Verwandten und Freunden! Man eilt, des be- schwerlichen Gastes los zu werden, ohne wol gar zu wissen, ob er auch würklich todt sey. Man fertigt ihn so wohlfeil als mög- lich, oder gar mit Pralerei zur Fäulniß ab; Erben theilen sich, und nennen das: rechtmäßig erworbnes Gut; ohne zu be- denken, daß ihre Erbnehmer ihnen schon beinahe auf die Ferse treten! Auch die Erde behält meinen Körper nicht lange, son- dern muß einen Zoll an alle Elemente davon entrichten, und ausdunsten; dergestalt, daß ich nach kurzer Zeit mein Grab so- wol in der Luft, als in der Erde habe. Das ist die Geschichte meines wandernden Körpers: aber meine Seele, hat auch die nichts eignes? erreicht auch sie keine Heimat? --
Nein! auch sie hat weder Vaterland noch Eigenthum, wenn sie nicht dein Blut und deine Gerechtigkeit, o Jesu! besitzt. Meine Tugenden, oder vielmehr dein Verdienst, das allein ist Reichthum, Ehre und Leben: alles übrige ist unnützes Gepäck, oder welkende Feldblümchen, die bald Geruch und Farbe ver- lieren. Sie sind zwar mitzunehmen: aber es muß nicht zu sauer werden, sie zu pflücken; sonst hält es auf und ermüdet. Was ich also noch zu leben habe in diesem meinem Fleische, das will ich im Glauben an den Sohn Gottes leben, der sich selbst für mich gegeben hat. O du für mich betender und blutender Freund! wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Him- mel und Erden; nach steinigten Pfaden, unruhigen Mitwandrern und dürftigen Herbergen, nichts!
Der
Der 27te Junius.
Jch werde wol bald aufbrechen und ſterben — ſo koͤnnen auch bluͤhende Kinder ſagen. Denn in dieſer Welt kan alles nur nach Stunden und Nachtlager berechnet werden. Jch habe heute noch ein Bette: aber morgen vieleicht einen Sarg. Und o! wie fremde alsdann! Wie unangenehm iſt mein Leichnam, ſelbſt meinen Verwandten und Freunden! Man eilt, des be- ſchwerlichen Gaſtes los zu werden, ohne wol gar zu wiſſen, ob er auch wuͤrklich todt ſey. Man fertigt ihn ſo wohlfeil als moͤg- lich, oder gar mit Pralerei zur Faͤulniß ab; Erben theilen ſich, und nennen das: rechtmaͤßig erworbnes Gut; ohne zu be- denken, daß ihre Erbnehmer ihnen ſchon beinahe auf die Ferſe treten! Auch die Erde behaͤlt meinen Koͤrper nicht lange, ſon- dern muß einen Zoll an alle Elemente davon entrichten, und ausdunſten; dergeſtalt, daß ich nach kurzer Zeit mein Grab ſo- wol in der Luft, als in der Erde habe. Das iſt die Geſchichte meines wandernden Koͤrpers: aber meine Seele, hat auch die nichts eignes? erreicht auch ſie keine Heimat? —
Nein! auch ſie hat weder Vaterland noch Eigenthum, wenn ſie nicht dein Blut und deine Gerechtigkeit, o Jeſu! beſitzt. Meine Tugenden, oder vielmehr dein Verdienſt, das allein iſt Reichthum, Ehre und Leben: alles uͤbrige iſt unnuͤtzes Gepaͤck, oder welkende Feldbluͤmchen, die bald Geruch und Farbe ver- lieren. Sie ſind zwar mitzunehmen: aber es muß nicht zu ſauer werden, ſie zu pfluͤcken; ſonſt haͤlt es auf und ermuͤdet. Was ich alſo noch zu leben habe in dieſem meinem Fleiſche, das will ich im Glauben an den Sohn Gottes leben, der ſich ſelbſt fuͤr mich gegeben hat. O du fuͤr mich betender und blutender Freund! wenn ich nur dich habe, ſo frage ich nichts nach Him- mel und Erden; nach ſteinigten Pfaden, unruhigen Mitwandrern und duͤrftigen Herbergen, nichts!
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[370[400]/0407]
Der 27te Junius.
Jch werde wol bald aufbrechen und ſterben — ſo koͤnnen
auch bluͤhende Kinder ſagen. Denn in dieſer Welt kan alles nur
nach Stunden und Nachtlager berechnet werden. Jch habe
heute noch ein Bette: aber morgen vieleicht einen Sarg. Und
o! wie fremde alsdann! Wie unangenehm iſt mein Leichnam,
ſelbſt meinen Verwandten und Freunden! Man eilt, des be-
ſchwerlichen Gaſtes los zu werden, ohne wol gar zu wiſſen, ob
er auch wuͤrklich todt ſey. Man fertigt ihn ſo wohlfeil als moͤg-
lich, oder gar mit Pralerei zur Faͤulniß ab; Erben theilen ſich,
und nennen das: rechtmaͤßig erworbnes Gut; ohne zu be-
denken, daß ihre Erbnehmer ihnen ſchon beinahe auf die Ferſe
treten! Auch die Erde behaͤlt meinen Koͤrper nicht lange, ſon-
dern muß einen Zoll an alle Elemente davon entrichten, und
ausdunſten; dergeſtalt, daß ich nach kurzer Zeit mein Grab ſo-
wol in der Luft, als in der Erde habe. Das iſt die Geſchichte
meines wandernden Koͤrpers: aber meine Seele, hat auch die
nichts eignes? erreicht auch ſie keine Heimat? —
Nein! auch ſie hat weder Vaterland noch Eigenthum, wenn
ſie nicht dein Blut und deine Gerechtigkeit, o Jeſu! beſitzt.
Meine Tugenden, oder vielmehr dein Verdienſt, das allein iſt
Reichthum, Ehre und Leben: alles uͤbrige iſt unnuͤtzes Gepaͤck,
oder welkende Feldbluͤmchen, die bald Geruch und Farbe ver-
lieren. Sie ſind zwar mitzunehmen: aber es muß nicht zu
ſauer werden, ſie zu pfluͤcken; ſonſt haͤlt es auf und ermuͤdet.
Was ich alſo noch zu leben habe in dieſem meinem Fleiſche, das
will ich im Glauben an den Sohn Gottes leben, der ſich ſelbſt
fuͤr mich gegeben hat. O du fuͤr mich betender und blutender
Freund! wenn ich nur dich habe, ſo frage ich nichts nach Him-
mel und Erden; nach ſteinigten Pfaden, unruhigen Mitwandrern
und duͤrftigen Herbergen, nichts!
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 370[400]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/407>, abgerufen am 21.11.2024.
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