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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 24te Junius.
Gewissen geängstiget bin. Ein erwachtes Gewissen! denn, was
könte es anders seyn? Wie? wenn es erst nach dem Tode er-
wachte! Wenn es in jener langen N[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]cht, wo die mir jetzt so
tröstliche Hofnung einer zurückkehrenden Sonne wegfält: wenn
es auch da so wie jetzt redete! Dort, wo wol keine Reue, keine
Besserung mehr statt findet und -- auch kein Erretter mehr!

Kein Erretter mehr? o! so will ich hier dein Verdienst
ergreifen, gebenedeieter Heiland! und nicht harren, bis mich
die Bande des Todes gefesselt haben! Geist der Gnaden! kehr
in mein Herz zurück, und gieß Reue in meine Seele aus! Ge-
beut dem Gewissen hier fort zu reden, auf daß es dorten schweige,
und ich nicht wieder in Sicherheit entschlafe! Unterstütz meinen
Vorsatz und würk das Vollbringen, so wird mir das Grab kein
Kerker seyn! So werde ich schon hier würdig erfunden werden,
vor dir im Gebet zu stehen, vor dir, so ost beleidigter Gott! und
dennoch Vater in Christo!

Ja, Vater! hier liege ich vor dir in meinem Blute; so hat
mich die Sünde zugerichtet! Geh nicht vorüber! Geh auch diese
Nacht nicht vor meinem Lager vorüber, du Wächter Jsraels!
Schau herab auf mich: aber nur durch das Verdienst deines
eingebohrnen Sohnes! Bin ich mit seinem Blute besprengt,
so wird der Würgengel meine Schwelle nicht betreten.

Held! auf den ich mich verlasse,
Richter! Heiland! wahrer Gott!
Den ich brünstig jetzt umfasse;
Hilf mir in der letzten Noth!
Nim dann, was du dir erlesen,
Nim's und heb mein Schuldbuch auf;
Will es ja die Rache lesen:
O! so blute vor darauf!
Der

Der 24te Junius.
Gewiſſen geaͤngſtiget bin. Ein erwachtes Gewiſſen! denn, was
koͤnte es anders ſeyn? Wie? wenn es erſt nach dem Tode er-
wachte! Wenn es in jener langen N[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]cht, wo die mir jetzt ſo
troͤſtliche Hofnung einer zuruͤckkehrenden Sonne wegfaͤlt: wenn
es auch da ſo wie jetzt redete! Dort, wo wol keine Reue, keine
Beſſerung mehr ſtatt findet und — auch kein Erretter mehr!

Kein Erretter mehr? o! ſo will ich hier dein Verdienſt
ergreifen, gebenedeieter Heiland! und nicht harren, bis mich
die Bande des Todes gefeſſelt haben! Geiſt der Gnaden! kehr
in mein Herz zuruͤck, und gieß Reue in meine Seele aus! Ge-
beut dem Gewiſſen hier fort zu reden, auf daß es dorten ſchweige,
und ich nicht wieder in Sicherheit entſchlafe! Unterſtuͤtz meinen
Vorſatz und wuͤrk das Vollbringen, ſo wird mir das Grab kein
Kerker ſeyn! So werde ich ſchon hier wuͤrdig erfunden werden,
vor dir im Gebet zu ſtehen, vor dir, ſo oſt beleidigter Gott! und
dennoch Vater in Chriſto!

Ja, Vater! hier liege ich vor dir in meinem Blute; ſo hat
mich die Suͤnde zugerichtet! Geh nicht voruͤber! Geh auch dieſe
Nacht nicht vor meinem Lager voruͤber, du Waͤchter Jſraels!
Schau herab auf mich: aber nur durch das Verdienſt deines
eingebohrnen Sohnes! Bin ich mit ſeinem Blute beſprengt,
ſo wird der Wuͤrgengel meine Schwelle nicht betreten.

Held! auf den ich mich verlaſſe,
Richter! Heiland! wahrer Gott!
Den ich bruͤnſtig jetzt umfaſſe;
Hilf mir in der letzten Noth!
Nim dann, was du dir erleſen,
Nim’s und heb mein Schuldbuch auf;
Will es ja die Rache leſen:
O! ſo blute vor darauf!
Der
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[364[394]/0401] Der 24te Junius. Gewiſſen geaͤngſtiget bin. Ein erwachtes Gewiſſen! denn, was koͤnte es anders ſeyn? Wie? wenn es erſt nach dem Tode er- wachte! Wenn es in jener langen N_cht, wo die mir jetzt ſo troͤſtliche Hofnung einer zuruͤckkehrenden Sonne wegfaͤlt: wenn es auch da ſo wie jetzt redete! Dort, wo wol keine Reue, keine Beſſerung mehr ſtatt findet und — auch kein Erretter mehr! Kein Erretter mehr? o! ſo will ich hier dein Verdienſt ergreifen, gebenedeieter Heiland! und nicht harren, bis mich die Bande des Todes gefeſſelt haben! Geiſt der Gnaden! kehr in mein Herz zuruͤck, und gieß Reue in meine Seele aus! Ge- beut dem Gewiſſen hier fort zu reden, auf daß es dorten ſchweige, und ich nicht wieder in Sicherheit entſchlafe! Unterſtuͤtz meinen Vorſatz und wuͤrk das Vollbringen, ſo wird mir das Grab kein Kerker ſeyn! So werde ich ſchon hier wuͤrdig erfunden werden, vor dir im Gebet zu ſtehen, vor dir, ſo oſt beleidigter Gott! und dennoch Vater in Chriſto! Ja, Vater! hier liege ich vor dir in meinem Blute; ſo hat mich die Suͤnde zugerichtet! Geh nicht voruͤber! Geh auch dieſe Nacht nicht vor meinem Lager voruͤber, du Waͤchter Jſraels! Schau herab auf mich: aber nur durch das Verdienſt deines eingebohrnen Sohnes! Bin ich mit ſeinem Blute beſprengt, ſo wird der Wuͤrgengel meine Schwelle nicht betreten. Held! auf den ich mich verlaſſe, Richter! Heiland! wahrer Gott! Den ich bruͤnſtig jetzt umfaſſe; Hilf mir in der letzten Noth! Nim dann, was du dir erleſen, Nim’s und heb mein Schuldbuch auf; Will es ja die Rache leſen: O! ſo blute vor darauf! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 364[394]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/401>, abgerufen am 13.06.2024.