Es giebt nur eine einzige wahre Geschicklichkeit für uns Men- schen, und das ist die Kunst zu sterben. Alles übrige, Staaten regieren und Brod einsammeln, sind Nebendinge. Was hälfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele? Was feine Lebensart? Sie ist äusserst grob, wenn sie sich sträubet, dem Tode die Hand zu geben. Kapitale samlen und austhun ist leichter, als an Jesum glauben. Zu jenem gehören nur gesunde Gliedmassen, etwas Verschlagenheit und viel Glück: (welches alles doch mehr Almo- sen von der Vorsicht, als erworbne Güter sind!) Aber zum lebendigen Glauben an den Erlöser gehöret wahrer Verstand, Nachdenken, und sonderlich ein bearbeitetes und folglich mehr als königliches Herz. Wer besaß mehr Geschicklichkeit, Joseph oder Potiphars Weib? Erlöset zu seyn, und doch verloren zu gehen, dazu gehöret weit mehr Ungeschicklichkeit und Dumheit, als wenn ein Gefangner die ihm geöfnete Thüre des Kerkers nicht finden könte. Wie einfältig, nicht zu wissen, wo man nach funfzig oder hundert Jahren seyn wird! Jch weiß, an welchen ich glaube und bin gewiß; ich weiß, daß mein Erlöser lebt: so sprechen Fromme. Jch weiß nicht, soll ich meiner Lüste Hüter seyn? -- so lallen abgeschmackte Sünder dem Kain nach.
Herr! du erforschest mich und kennest mich; du verstehest meine Gedanken und meine leider verschuldete Ungeschicklichkeit von ferne. Könte ich mich jetzt noch eine Stunde angenehm mit dir unterhalten? Und wie sehr ungeschickt bin ich, wenn ich dir weder meine Noth klagen, noch meinen Dank zustammeln kan! Zeig mir also deine Wege, und lehr mich deine Steige! Leit mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du bist der Gott, der mir hilft: täglich harre ich dein. Auch in dieser Nacht wollest du mich gnädig bewahren; nicht nach Verdienst, sondern nach deiner grundlosen Barmherzigkeit! Amen.
Der
Der 23te Junius.
Es giebt nur eine einzige wahre Geſchicklichkeit fuͤr uns Men- ſchen, und das iſt die Kunſt zu ſterben. Alles uͤbrige, Staaten regieren und Brod einſammeln, ſind Nebendinge. Was haͤlfe es dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewoͤnne, und naͤhme doch Schaden an ſeiner Seele? Was feine Lebensart? Sie iſt aͤuſſerſt grob, wenn ſie ſich ſtraͤubet, dem Tode die Hand zu geben. Kapitale ſamlen und austhun iſt leichter, als an Jeſum glauben. Zu jenem gehoͤren nur geſunde Gliedmaſſen, etwas Verſchlagenheit und viel Gluͤck: (welches alles doch mehr Almo- ſen von der Vorſicht, als erworbne Guͤter ſind!) Aber zum lebendigen Glauben an den Erloͤſer gehoͤret wahrer Verſtand, Nachdenken, und ſonderlich ein bearbeitetes und folglich mehr als koͤnigliches Herz. Wer beſaß mehr Geſchicklichkeit, Joſeph oder Potiphars Weib? Erloͤſet zu ſeyn, und doch verloren zu gehen, dazu gehoͤret weit mehr Ungeſchicklichkeit und Dumheit, als wenn ein Gefangner die ihm geoͤfnete Thuͤre des Kerkers nicht finden koͤnte. Wie einfaͤltig, nicht zu wiſſen, wo man nach funfzig oder hundert Jahren ſeyn wird! Jch weiß, an welchen ich glaube und bin gewiß; ich weiß, daß mein Erloͤſer lebt: ſo ſprechen Fromme. Jch weiß nicht, ſoll ich meiner Luͤſte Huͤter ſeyn? — ſo lallen abgeſchmackte Suͤnder dem Kain nach.
Herr! du erforſcheſt mich und kenneſt mich; du verſteheſt meine Gedanken und meine leider verſchuldete Ungeſchicklichkeit von ferne. Koͤnte ich mich jetzt noch eine Stunde angenehm mit dir unterhalten? Und wie ſehr ungeſchickt bin ich, wenn ich dir weder meine Noth klagen, noch meinen Dank zuſtammeln kan! Zeig mir alſo deine Wege, und lehr mich deine Steige! Leit mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du biſt der Gott, der mir hilft: taͤglich harre ich dein. Auch in dieſer Nacht wolleſt du mich gnaͤdig bewahren; nicht nach Verdienſt, ſondern nach deiner grundloſen Barmherzigkeit! Amen.
Der
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Der 23te Junius.
Es giebt nur eine einzige wahre Geſchicklichkeit fuͤr uns Men-
ſchen, und das iſt die Kunſt zu ſterben. Alles uͤbrige, Staaten
regieren und Brod einſammeln, ſind Nebendinge. Was haͤlfe
es dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewoͤnne, und naͤhme
doch Schaden an ſeiner Seele? Was feine Lebensart? Sie
iſt aͤuſſerſt grob, wenn ſie ſich ſtraͤubet, dem Tode die Hand zu
geben. Kapitale ſamlen und austhun iſt leichter, als an Jeſum
glauben. Zu jenem gehoͤren nur geſunde Gliedmaſſen, etwas
Verſchlagenheit und viel Gluͤck: (welches alles doch mehr Almo-
ſen von der Vorſicht, als erworbne Guͤter ſind!) Aber zum
lebendigen Glauben an den Erloͤſer gehoͤret wahrer Verſtand,
Nachdenken, und ſonderlich ein bearbeitetes und folglich mehr als
koͤnigliches Herz. Wer beſaß mehr Geſchicklichkeit, Joſeph
oder Potiphars Weib? Erloͤſet zu ſeyn, und doch verloren zu
gehen, dazu gehoͤret weit mehr Ungeſchicklichkeit und Dumheit,
als wenn ein Gefangner die ihm geoͤfnete Thuͤre des Kerkers
nicht finden koͤnte. Wie einfaͤltig, nicht zu wiſſen, wo man
nach funfzig oder hundert Jahren ſeyn wird! Jch weiß, an
welchen ich glaube und bin gewiß; ich weiß, daß mein Erloͤſer
lebt: ſo ſprechen Fromme. Jch weiß nicht, ſoll ich meiner
Luͤſte Huͤter ſeyn? — ſo lallen abgeſchmackte Suͤnder dem Kain
nach.
Herr! du erforſcheſt mich und kenneſt mich; du verſteheſt
meine Gedanken und meine leider verſchuldete Ungeſchicklichkeit
von ferne. Koͤnte ich mich jetzt noch eine Stunde angenehm
mit dir unterhalten? Und wie ſehr ungeſchickt bin ich, wenn
ich dir weder meine Noth klagen, noch meinen Dank zuſtammeln
kan! Zeig mir alſo deine Wege, und lehr mich deine Steige!
Leit mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du biſt der
Gott, der mir hilft: taͤglich harre ich dein. Auch in dieſer
Nacht wolleſt du mich gnaͤdig bewahren; nicht nach Verdienſt,
ſondern nach deiner grundloſen Barmherzigkeit! Amen.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 362[392]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/399>, abgerufen am 22.11.2024.
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