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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 16te Junius.
An dem, was wahrhast glücklich macht,
Läßt Gott es keinem fehlen.
Gesundheit, Ehre, Glück und Pracht
Sind nicht das Glück der Seelen.
Wer Gottes Rath
Vor Augen hat,
Dem wird ein gut Gewissen
Die Trübsal auch versüssen.


Die Gleichheit menschlicher Schicksale ist größer, als
es dem ersten Anblick nach scheinet. Wir stehen zu weit ab,
oder ellen zu flüchtig vorüber, um ein richtiges Urtheil vom Gemälde
zu fällen. Vieleicht sind alle Menschen gleich glücklich und gleich
unglücklich, wenn wir folgendes beobachten:

Man beurtheile keinen nach sich selbst. Was mir herbe ist,
muß es deswegen nicht auch jedem andern seyn; und so auch um-
gekehrt. Ein hungernder Landmann sieht eine fürstliche Tafel,
und bildet sich ein, daß jeder der daran sitze, mit Appetit und
Wollust speise. Aber er irret, wie der Zärtling, welcher glaubt
daß jeder Mensch, bei einer geritzten Wunde und etlichen Bluts-
tropfen, so viel Schmerzen und Angst ausstehe, als er. Erzie-
hung und Gewohnheit benehmen gewissen Nerven fast alle Em-
pfindlichkeit. Man wird des Ordensbandes so gewohnt, als der
Krücke. Wer barfuß von Kindheit an ging, erkältet sich we-
niger, als wer sich immer in Pelze hüllt. Jener empfindet Stock-
schläge nicht mehr, als dieser einen scheelen Blick.

Man sehe Glück und Unglück nicht blos von Einer Seite an:
denn die andre Seite erkläret die erste. Ein hoher Stand hat zum
Gegenbilde mehr Verantwortung, Schmeichler und Neider: sel-
ten einen vertrauten Freund. Der Jugend fehlt Geld und
Bedachtsamkeit: dem Alter Freude und Gefälligkeit. Gute Tage
gebähren übermütige Härte: böse Tage niederträchtige Fühllosig-
keit. Beide werden sich ähnlich. Ein stolzer Minister lieset ein

Pasquill


Der 16te Junius.
An dem, was wahrhaſt gluͤcklich macht,
Laͤßt Gott es keinem fehlen.
Geſundheit, Ehre, Gluͤck und Pracht
Sind nicht das Gluͤck der Seelen.
Wer Gottes Rath
Vor Augen hat,
Dem wird ein gut Gewiſſen
Die Truͤbſal auch verſuͤſſen.


Die Gleichheit menſchlicher Schickſale iſt groͤßer, als
es dem erſten Anblick nach ſcheinet. Wir ſtehen zu weit ab,
oder ellen zu fluͤchtig voruͤber, um ein richtiges Urtheil vom Gemaͤlde
zu faͤllen. Vieleicht ſind alle Menſchen gleich gluͤcklich und gleich
ungluͤcklich, wenn wir folgendes beobachten:

Man beurtheile keinen nach ſich ſelbſt. Was mir herbe iſt,
muß es deswegen nicht auch jedem andern ſeyn; und ſo auch um-
gekehrt. Ein hungernder Landmann ſieht eine fuͤrſtliche Tafel,
und bildet ſich ein, daß jeder der daran ſitze, mit Appetit und
Wolluſt ſpeiſe. Aber er irret, wie der Zaͤrtling, welcher glaubt
daß jeder Menſch, bei einer geritzten Wunde und etlichen Bluts-
tropfen, ſo viel Schmerzen und Angſt ausſtehe, als er. Erzie-
hung und Gewohnheit benehmen gewiſſen Nerven faſt alle Em-
pfindlichkeit. Man wird des Ordensbandes ſo gewohnt, als der
Kruͤcke. Wer barfuß von Kindheit an ging, erkaͤltet ſich we-
niger, als wer ſich immer in Pelze huͤllt. Jener empfindet Stock-
ſchlaͤge nicht mehr, als dieſer einen ſcheelen Blick.

Man ſehe Gluͤck und Ungluͤck nicht blos von Einer Seite an:
denn die andre Seite erklaͤret die erſte. Ein hoher Stand hat zum
Gegenbilde mehr Verantwortung, Schmeichler und Neider: ſel-
ten einen vertrauten Freund. Der Jugend fehlt Geld und
Bedachtſamkeit: dem Alter Freude und Gefaͤlligkeit. Gute Tage
gebaͤhren uͤbermuͤtige Haͤrte: boͤſe Tage niedertraͤchtige Fuͤhlloſig-
keit. Beide werden ſich aͤhnlich. Ein ſtolzer Miniſter lieſet ein

Pasquill
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[347[377]/0384] Der 16te Junius. An dem, was wahrhaſt gluͤcklich macht, Laͤßt Gott es keinem fehlen. Geſundheit, Ehre, Gluͤck und Pracht Sind nicht das Gluͤck der Seelen. Wer Gottes Rath Vor Augen hat, Dem wird ein gut Gewiſſen Die Truͤbſal auch verſuͤſſen. Die Gleichheit menſchlicher Schickſale iſt groͤßer, als es dem erſten Anblick nach ſcheinet. Wir ſtehen zu weit ab, oder ellen zu fluͤchtig voruͤber, um ein richtiges Urtheil vom Gemaͤlde zu faͤllen. Vieleicht ſind alle Menſchen gleich gluͤcklich und gleich ungluͤcklich, wenn wir folgendes beobachten: Man beurtheile keinen nach ſich ſelbſt. Was mir herbe iſt, muß es deswegen nicht auch jedem andern ſeyn; und ſo auch um- gekehrt. Ein hungernder Landmann ſieht eine fuͤrſtliche Tafel, und bildet ſich ein, daß jeder der daran ſitze, mit Appetit und Wolluſt ſpeiſe. Aber er irret, wie der Zaͤrtling, welcher glaubt daß jeder Menſch, bei einer geritzten Wunde und etlichen Bluts- tropfen, ſo viel Schmerzen und Angſt ausſtehe, als er. Erzie- hung und Gewohnheit benehmen gewiſſen Nerven faſt alle Em- pfindlichkeit. Man wird des Ordensbandes ſo gewohnt, als der Kruͤcke. Wer barfuß von Kindheit an ging, erkaͤltet ſich we- niger, als wer ſich immer in Pelze huͤllt. Jener empfindet Stock- ſchlaͤge nicht mehr, als dieſer einen ſcheelen Blick. Man ſehe Gluͤck und Ungluͤck nicht blos von Einer Seite an: denn die andre Seite erklaͤret die erſte. Ein hoher Stand hat zum Gegenbilde mehr Verantwortung, Schmeichler und Neider: ſel- ten einen vertrauten Freund. Der Jugend fehlt Geld und Bedachtſamkeit: dem Alter Freude und Gefaͤlligkeit. Gute Tage gebaͤhren uͤbermuͤtige Haͤrte: boͤſe Tage niedertraͤchtige Fuͤhlloſig- keit. Beide werden ſich aͤhnlich. Ein ſtolzer Miniſter lieſet ein Pasquill

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 347[377]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/384>, abgerufen am 25.11.2024.