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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 14te Junius.
Streifen. Die Tulpe erhält also ihren Werth von unsern Au-
gen: aber von unserm Verstande und Nachdenken solte jedes Ge-
schöpf den seinigen erhalten.

Mit diesem Eigennutz gehen wir auch unter Menschen ein-
her, und werden nicht selten dadurch -- lächerlich. Ein Mensch
war bisher in unsern Augen nichtswürdig: aber er macht uns ein
Geschenk nach unserm Geschmack, es sey an Geld, Dienstleistung,
Schmeichelei oder Versprechung; und nun ist er in einen Engel
verwandelt. Jener arme Mann wird von keinem Vorübergehen-
den betrachtet, sondern gestossen und mit Koth bespritzt: wenn
aber falsches gekräuseltes Haar seinen grauen Kopf, und ein
atlassenes Kleid (wäre es auch durch Betrug und Borgen an ihn
gekommen) seinen Körper deckte: dann empföle sich jeder Gebückte
heimlich seiner Gnade. Unsre Beutel oder Augen müssen gefül-
let seyn, wenn wir etwas schätzen sollen. Unser Verstand wird
selten dabei zu Rathe gezogen.

Aber du füllest doch meine Hände und mein Herz, grundgü-
tiger Erhalter! Dich müßte ich Eigennütziger also doch am lie-
benswürdigsten finden! Jedoch Ungenügsamkeit, Eigensinn und
Unachtsamkeit verbergen dich mir leider sehr oft! Nicht wenig
trägt auch die unverantwortliche Geringschätzung einiger deinet
Werke dazu bei. Was ich verächtlich mit Füssen trete, oder nur
mit Grauen und Spott anblicke: das wendet mich gewissermassen
von dir ab. So mißbraucht mancher Christ das Hohelied Sa-
lomons oder andre Bücher der heiligen Schrift, welche eigentlich
für andre Nationen und Zeiten geschrieben sind, zur Spötterei,
Wir sehen nur immer gar zu sehr auf uns und unser Jahrhun-
dert; und bei dieser Kurzsichtigkeit verlieren die erhabnen Einrich-
tungen Gottes, und folglich unsre dankbegierige Ehrfurcht, vieles
von ihrem Reize. O! du Anbetenswürdiger! Vom Siebenge-
stirn bis zum Dornstrauch ist nichts dir unanständiges vorhanden,
Nicht was mir nützlich, sondern was dir rühmlich ist: das beseele
meine Betrachtungen der Natur!

Der

Der 14te Junius.
Streifen. Die Tulpe erhaͤlt alſo ihren Werth von unſern Au-
gen: aber von unſerm Verſtande und Nachdenken ſolte jedes Ge-
ſchoͤpf den ſeinigen erhalten.

Mit dieſem Eigennutz gehen wir auch unter Menſchen ein-
her, und werden nicht ſelten dadurch — laͤcherlich. Ein Menſch
war bisher in unſern Augen nichtswuͤrdig: aber er macht uns ein
Geſchenk nach unſerm Geſchmack, es ſey an Geld, Dienſtleiſtung,
Schmeichelei oder Verſprechung; und nun iſt er in einen Engel
verwandelt. Jener arme Mann wird von keinem Voruͤbergehen-
den betrachtet, ſondern geſtoſſen und mit Koth beſpritzt: wenn
aber falſches gekraͤuſeltes Haar ſeinen grauen Kopf, und ein
atlaſſenes Kleid (waͤre es auch durch Betrug und Borgen an ihn
gekommen) ſeinen Koͤrper deckte: dann empfoͤle ſich jeder Gebuͤckte
heimlich ſeiner Gnade. Unſre Beutel oder Augen muͤſſen gefuͤl-
let ſeyn, wenn wir etwas ſchaͤtzen ſollen. Unſer Verſtand wird
ſelten dabei zu Rathe gezogen.

Aber du fuͤlleſt doch meine Haͤnde und mein Herz, grundguͤ-
tiger Erhalter! Dich muͤßte ich Eigennuͤtziger alſo doch am lie-
benswuͤrdigſten finden! Jedoch Ungenuͤgſamkeit, Eigenſinn und
Unachtſamkeit verbergen dich mir leider ſehr oft! Nicht wenig
traͤgt auch die unverantwortliche Geringſchaͤtzung einiger deinet
Werke dazu bei. Was ich veraͤchtlich mit Fuͤſſen trete, oder nur
mit Grauen und Spott anblicke: das wendet mich gewiſſermaſſen
von dir ab. So mißbraucht mancher Chriſt das Hohelied Sa-
lomons oder andre Buͤcher der heiligen Schrift, welche eigentlich
fuͤr andre Nationen und Zeiten geſchrieben ſind, zur Spoͤtterei,
Wir ſehen nur immer gar zu ſehr auf uns und unſer Jahrhun-
dert; und bei dieſer Kurzſichtigkeit verlieren die erhabnen Einrich-
tungen Gottes, und folglich unſre dankbegierige Ehrfurcht, vieles
von ihrem Reize. O! du Anbetenswuͤrdiger! Vom Siebenge-
ſtirn bis zum Dornſtrauch iſt nichts dir unanſtaͤndiges vorhanden,
Nicht was mir nuͤtzlich, ſondern was dir ruͤhmlich iſt: das beſeele
meine Betrachtungen der Natur!

Der
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[344[374]/0381] Der 14te Junius. Streifen. Die Tulpe erhaͤlt alſo ihren Werth von unſern Au- gen: aber von unſerm Verſtande und Nachdenken ſolte jedes Ge- ſchoͤpf den ſeinigen erhalten. Mit dieſem Eigennutz gehen wir auch unter Menſchen ein- her, und werden nicht ſelten dadurch — laͤcherlich. Ein Menſch war bisher in unſern Augen nichtswuͤrdig: aber er macht uns ein Geſchenk nach unſerm Geſchmack, es ſey an Geld, Dienſtleiſtung, Schmeichelei oder Verſprechung; und nun iſt er in einen Engel verwandelt. Jener arme Mann wird von keinem Voruͤbergehen- den betrachtet, ſondern geſtoſſen und mit Koth beſpritzt: wenn aber falſches gekraͤuſeltes Haar ſeinen grauen Kopf, und ein atlaſſenes Kleid (waͤre es auch durch Betrug und Borgen an ihn gekommen) ſeinen Koͤrper deckte: dann empfoͤle ſich jeder Gebuͤckte heimlich ſeiner Gnade. Unſre Beutel oder Augen muͤſſen gefuͤl- let ſeyn, wenn wir etwas ſchaͤtzen ſollen. Unſer Verſtand wird ſelten dabei zu Rathe gezogen. Aber du fuͤlleſt doch meine Haͤnde und mein Herz, grundguͤ- tiger Erhalter! Dich muͤßte ich Eigennuͤtziger alſo doch am lie- benswuͤrdigſten finden! Jedoch Ungenuͤgſamkeit, Eigenſinn und Unachtſamkeit verbergen dich mir leider ſehr oft! Nicht wenig traͤgt auch die unverantwortliche Geringſchaͤtzung einiger deinet Werke dazu bei. Was ich veraͤchtlich mit Fuͤſſen trete, oder nur mit Grauen und Spott anblicke: das wendet mich gewiſſermaſſen von dir ab. So mißbraucht mancher Chriſt das Hohelied Sa- lomons oder andre Buͤcher der heiligen Schrift, welche eigentlich fuͤr andre Nationen und Zeiten geſchrieben ſind, zur Spoͤtterei, Wir ſehen nur immer gar zu ſehr auf uns und unſer Jahrhun- dert; und bei dieſer Kurzſichtigkeit verlieren die erhabnen Einrich- tungen Gottes, und folglich unſre dankbegierige Ehrfurcht, vieles von ihrem Reize. O! du Anbetenswuͤrdiger! Vom Siebenge- ſtirn bis zum Dornſtrauch iſt nichts dir unanſtaͤndiges vorhanden, Nicht was mir nuͤtzlich, ſondern was dir ruͤhmlich iſt: das beſeele meine Betrachtungen der Natur! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 344[374]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/381>, abgerufen am 02.10.2024.