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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 28te Mai.
könne. Raupen, Feldmäuse, Tertian- und Quartanfieber wol-
len jedes besonders begegnet seyn. Nicht genug demnach, daß
die vier Jahrszeiten, etwa mechanisch umherziehn, und daß es
anjetzt im untern Amerika November ist: die göttliche Vorsehung
mißt, zählet und wägt die Witterungen, jeder Gegend nach ihrer
Nothdurft zu. Der Regen und die Winde haben in heissen Län-
dern und auf dem Meere ganz andre Gesetze, als unter den Welt-
polen und in Gebürgen. Wären wir genau und fleißig genug,
so würden wir finden, daß jeder Ort seines besondern Kalenders
bedürfe. Wir reden von Wetterscheiden: aber wir könten das
auch auf Schnee, Winde und Sonnenschein ausdehnen. Ein
sandiges Land erfodert einen ganz andern Himmel, als eine mora-
stige oder gebürgigte Gegend. Länder am Weltmeer werden
durch eine Seeluft erquickt, welche hundert Meilen tiefer ins
Land höchst schädlich wäre.

Nun, du immerwährender Wettertadler! setz dich denn hin!
miß und berechne jedes Qrts Bedürfniß! Mache den genauesten
Ueberschlag, was binnen hundert Jahren, um Menschen zu be-
strafen, zu belohnen, und sie doch sämtlich zu erhalten; sprich,
was alles auf einander folgen soll, wenn kaltgründiges und hitzi-
ges Erdreich, wenn Gebürge und die daran stossende Thäler,
Nahrung, Kleider, Gesundheit und Vergnügen ernten sollen.
Ach! kurzsichtiger Mensch! wirf den lügenhaften hundertjähri-
gen Kalender weg, und bete Gott an. Seine Wege und Wit-
terungen sind unergründlich; die schlaueste Erfahrung kan nur
muthmassen. Nichts soll demnach mein Vertrauen auf Gott
schwächen. Er wird meinem Schicksale so viel Sturm und Son-
nenschein geben, als zu meinem wahren Besten erfodert wird.
Jch will zur Ewigkeit säen und pflanzen: er wird das Gedeien dazu
schenken. Jm Reiche der Gnaden kan ich mir das Wetter selbst
machen. Anhaltendes Gebet zertheilet die Wolken, und die
Sonne der Gerechtigkeit strahlet mich an. Auch in der Finster-
niß erleuchtet sie meinen Weg.

Der

Der 28te Mai.
koͤnne. Raupen, Feldmaͤuſe, Tertian- und Quartanfieber wol-
len jedes beſonders begegnet ſeyn. Nicht genug demnach, daß
die vier Jahrszeiten, etwa mechaniſch umherziehn, und daß es
anjetzt im untern Amerika November iſt: die goͤttliche Vorſehung
mißt, zaͤhlet und waͤgt die Witterungen, jeder Gegend nach ihrer
Nothdurft zu. Der Regen und die Winde haben in heiſſen Laͤn-
dern und auf dem Meere ganz andre Geſetze, als unter den Welt-
polen und in Gebuͤrgen. Waͤren wir genau und fleißig genug,
ſo wuͤrden wir finden, daß jeder Ort ſeines beſondern Kalenders
beduͤrfe. Wir reden von Wetterſcheiden: aber wir koͤnten das
auch auf Schnee, Winde und Sonnenſchein ausdehnen. Ein
ſandiges Land erfodert einen ganz andern Himmel, als eine mora-
ſtige oder gebuͤrgigte Gegend. Laͤnder am Weltmeer werden
durch eine Seeluft erquickt, welche hundert Meilen tiefer ins
Land hoͤchſt ſchaͤdlich waͤre.

Nun, du immerwaͤhrender Wettertadler! ſetz dich denn hin!
miß und berechne jedes Qrts Beduͤrfniß! Mache den genaueſten
Ueberſchlag, was binnen hundert Jahren, um Menſchen zu be-
ſtrafen, zu belohnen, und ſie doch ſaͤmtlich zu erhalten; ſprich,
was alles auf einander folgen ſoll, wenn kaltgruͤndiges und hitzi-
ges Erdreich, wenn Gebuͤrge und die daran ſtoſſende Thaͤler,
Nahrung, Kleider, Geſundheit und Vergnuͤgen ernten ſollen.
Ach! kurzſichtiger Menſch! wirf den luͤgenhaften hundertjaͤhri-
gen Kalender weg, und bete Gott an. Seine Wege und Wit-
terungen ſind unergruͤndlich; die ſchlaueſte Erfahrung kan nur
muthmaſſen. Nichts ſoll demnach mein Vertrauen auf Gott
ſchwaͤchen. Er wird meinem Schickſale ſo viel Sturm und Son-
nenſchein geben, als zu meinem wahren Beſten erfodert wird.
Jch will zur Ewigkeit ſaͤen und pflanzen: er wird das Gedeien dazu
ſchenken. Jm Reiche der Gnaden kan ich mir das Wetter ſelbſt
machen. Anhaltendes Gebet zertheilet die Wolken, und die
Sonne der Gerechtigkeit ſtrahlet mich an. Auch in der Finſter-
niß erleuchtet ſie meinen Weg.

Der
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[308[338]/0345] Der 28te Mai. koͤnne. Raupen, Feldmaͤuſe, Tertian- und Quartanfieber wol- len jedes beſonders begegnet ſeyn. Nicht genug demnach, daß die vier Jahrszeiten, etwa mechaniſch umherziehn, und daß es anjetzt im untern Amerika November iſt: die goͤttliche Vorſehung mißt, zaͤhlet und waͤgt die Witterungen, jeder Gegend nach ihrer Nothdurft zu. Der Regen und die Winde haben in heiſſen Laͤn- dern und auf dem Meere ganz andre Geſetze, als unter den Welt- polen und in Gebuͤrgen. Waͤren wir genau und fleißig genug, ſo wuͤrden wir finden, daß jeder Ort ſeines beſondern Kalenders beduͤrfe. Wir reden von Wetterſcheiden: aber wir koͤnten das auch auf Schnee, Winde und Sonnenſchein ausdehnen. Ein ſandiges Land erfodert einen ganz andern Himmel, als eine mora- ſtige oder gebuͤrgigte Gegend. Laͤnder am Weltmeer werden durch eine Seeluft erquickt, welche hundert Meilen tiefer ins Land hoͤchſt ſchaͤdlich waͤre. Nun, du immerwaͤhrender Wettertadler! ſetz dich denn hin! miß und berechne jedes Qrts Beduͤrfniß! Mache den genaueſten Ueberſchlag, was binnen hundert Jahren, um Menſchen zu be- ſtrafen, zu belohnen, und ſie doch ſaͤmtlich zu erhalten; ſprich, was alles auf einander folgen ſoll, wenn kaltgruͤndiges und hitzi- ges Erdreich, wenn Gebuͤrge und die daran ſtoſſende Thaͤler, Nahrung, Kleider, Geſundheit und Vergnuͤgen ernten ſollen. Ach! kurzſichtiger Menſch! wirf den luͤgenhaften hundertjaͤhri- gen Kalender weg, und bete Gott an. Seine Wege und Wit- terungen ſind unergruͤndlich; die ſchlaueſte Erfahrung kan nur muthmaſſen. Nichts ſoll demnach mein Vertrauen auf Gott ſchwaͤchen. Er wird meinem Schickſale ſo viel Sturm und Son- nenſchein geben, als zu meinem wahren Beſten erfodert wird. Jch will zur Ewigkeit ſaͤen und pflanzen: er wird das Gedeien dazu ſchenken. Jm Reiche der Gnaden kan ich mir das Wetter ſelbſt machen. Anhaltendes Gebet zertheilet die Wolken, und die Sonne der Gerechtigkeit ſtrahlet mich an. Auch in der Finſter- niß erleuchtet ſie meinen Weg. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 308[338]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/345>, abgerufen am 21.11.2024.