Geniesse, was dir Gott beschieden: Entbehre gern, was du nicht hast: Ein jeder Stand hat seinen Frieden, Ein jeder Stand hat seine Last. Gott ist der Herr, und seinen Segen Vertheilt er stets mit weiser Hand; Nicht so, wie wirs zu wünschen pflegen, Doch so, wie ers uns heilsam fand.
So schön dieser Monat auch ist, so fehlet ihm doch noch man- ches zur Vollkommenheit. Wir wünschen jetzt schmackhaf- tes Obst, und reichliche Gartenfrüchte. Der Morgen und der Abend sind uns öfters noch zu kühl, und -- jedoch, wenn wir uns erst ins Wünschen einlassen: dann hören wir so bald nicht wie- der auf. Ein Thor wünschte sich jetzt eine Schlittenfarth, der andre mögte baden.
Ein Bild von unserm Leben! Das unvollständige Glück. der Menschen brütet Wünsche über Wünsche aus. Jn jedem Alter und Stande fehlet uns etwas, so, daß unser verlangtes Glück niemals vollständig wird. Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens, denn der Gelehrte ist, wie ein Geiziger, unersättlich; grosser Reichthum erzeuget Sorgen und Zerstreuung; bittre Ar- mut gebieret Kummer und Verachtung. Der Landmann hat seine Plage, Fürsten haben die ihrige auch. Man kan jeden Stand mit einem gewissen Monat des Jahrs vergleichen. Für Arme ist es immer Februar, für Reiche Julius oder August.
Auch
Tiedens Abendand. I. Th. U
Der 27te Mai.
Genieſſe, was dir Gott beſchieden: Entbehre gern, was du nicht haſt: Ein jeder Stand hat ſeinen Frieden, Ein jeder Stand hat ſeine Laſt. Gott iſt der Herr, und ſeinen Segen Vertheilt er ſtets mit weiſer Hand; Nicht ſo, wie wirs zu wuͤnſchen pflegen, Doch ſo, wie ers uns heilſam fand.
So ſchoͤn dieſer Monat auch iſt, ſo fehlet ihm doch noch man- ches zur Vollkommenheit. Wir wuͤnſchen jetzt ſchmackhaf- tes Obſt, und reichliche Gartenfruͤchte. Der Morgen und der Abend ſind uns oͤfters noch zu kuͤhl, und — jedoch, wenn wir uns erſt ins Wuͤnſchen einlaſſen: dann hoͤren wir ſo bald nicht wie- der auf. Ein Thor wuͤnſchte ſich jetzt eine Schlittenfarth, der andre moͤgte baden.
Ein Bild von unſerm Leben! Das unvollſtaͤndige Gluͤck. der Menſchen bruͤtet Wuͤnſche uͤber Wuͤnſche aus. Jn jedem Alter und Stande fehlet uns etwas, ſo, daß unſer verlangtes Gluͤck niemals vollſtaͤndig wird. Wo viel Weisheit iſt, da iſt viel Graͤmens, denn der Gelehrte iſt, wie ein Geiziger, unerſaͤttlich; groſſer Reichthum erzeuget Sorgen und Zerſtreuung; bittre Ar- mut gebieret Kummer und Verachtung. Der Landmann hat ſeine Plage, Fuͤrſten haben die ihrige auch. Man kan jeden Stand mit einem gewiſſen Monat des Jahrs vergleichen. Fuͤr Arme iſt es immer Februar, fuͤr Reiche Julius oder Auguſt.
Auch
Tiedens Abendand. I. Th. U
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[305[335]/0342]
Der 27te Mai.
Genieſſe, was dir Gott beſchieden:
Entbehre gern, was du nicht haſt:
Ein jeder Stand hat ſeinen Frieden,
Ein jeder Stand hat ſeine Laſt.
Gott iſt der Herr, und ſeinen Segen
Vertheilt er ſtets mit weiſer Hand;
Nicht ſo, wie wirs zu wuͤnſchen pflegen,
Doch ſo, wie ers uns heilſam fand.
So ſchoͤn dieſer Monat auch iſt, ſo fehlet ihm doch noch man-
ches zur Vollkommenheit. Wir wuͤnſchen jetzt ſchmackhaf-
tes Obſt, und reichliche Gartenfruͤchte. Der Morgen und der
Abend ſind uns oͤfters noch zu kuͤhl, und — jedoch, wenn wir
uns erſt ins Wuͤnſchen einlaſſen: dann hoͤren wir ſo bald nicht wie-
der auf. Ein Thor wuͤnſchte ſich jetzt eine Schlittenfarth, der
andre moͤgte baden.
Ein Bild von unſerm Leben! Das unvollſtaͤndige Gluͤck.
der Menſchen bruͤtet Wuͤnſche uͤber Wuͤnſche aus. Jn jedem
Alter und Stande fehlet uns etwas, ſo, daß unſer verlangtes
Gluͤck niemals vollſtaͤndig wird. Wo viel Weisheit iſt, da iſt viel
Graͤmens, denn der Gelehrte iſt, wie ein Geiziger, unerſaͤttlich;
groſſer Reichthum erzeuget Sorgen und Zerſtreuung; bittre Ar-
mut gebieret Kummer und Verachtung. Der Landmann hat
ſeine Plage, Fuͤrſten haben die ihrige auch. Man kan jeden
Stand mit einem gewiſſen Monat des Jahrs vergleichen. Fuͤr
Arme iſt es immer Februar, fuͤr Reiche Julius oder Auguſt.
Auch
Tiedens Abendand. I. Th. U
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 305[335]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/342>, abgerufen am 16.02.2025.
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