Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 24te Mai. weder Kreuz noch Trübsale scheuen. Jmmer lachen und hüpfenwollen, verräth ein weichliches, kindisches Herz. Jch bin ja ge- boren zu sterben, folglich zu leiden; dazu muß ich mich allge- mach abhärten. Hier ist die Welt noch nicht, wo ewiger Früh- ling seyn kan. Der grobe Körper kan noch nicht von Harmonien oder Blumenstaube leben: er verlanget Korn, und dazu werden Winter und Sommer erfodert. Kurz: eine Welt wie die unsrige erfodert Orkane und Trübsal. Vater! der du mich mehr liebest, als ich dich jemals lieben So, Vater! will ich dein Kind, getröstet an deiner Hand Der
Der 24te Mai. weder Kreuz noch Truͤbſale ſcheuen. Jmmer lachen und huͤpfenwollen, verraͤth ein weichliches, kindiſches Herz. Jch bin ja ge- boren zu ſterben, folglich zu leiden; dazu muß ich mich allge- mach abhaͤrten. Hier iſt die Welt noch nicht, wo ewiger Fruͤh- ling ſeyn kan. Der grobe Koͤrper kan noch nicht von Harmonien oder Blumenſtaube leben: er verlanget Korn, und dazu werden Winter und Sommer erfodert. Kurz: eine Welt wie die unſrige erfodert Orkane und Truͤbſal. Vater! der du mich mehr liebeſt, als ich dich jemals lieben So, Vater! will ich dein Kind, getroͤſtet an deiner Hand Der
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Der 24te Mai.
weder Kreuz noch Truͤbſale ſcheuen. Jmmer lachen und huͤpfen
wollen, verraͤth ein weichliches, kindiſches Herz. Jch bin ja ge-
boren zu ſterben, folglich zu leiden; dazu muß ich mich allge-
mach abhaͤrten. Hier iſt die Welt noch nicht, wo ewiger Fruͤh-
ling ſeyn kan. Der grobe Koͤrper kan noch nicht von Harmonien
oder Blumenſtaube leben: er verlanget Korn, und dazu werden
Winter und Sommer erfodert. Kurz: eine Welt wie die unſrige
erfodert Orkane und Truͤbſal.
Vater! der du mich mehr liebeſt, als ich dich jemals lieben
kan! Der du ſelbſt Raupen ſo viel gutes erzeigeſt, als ohne Be-
eintraͤchtigung der edlern Geſchoͤpfe geſchehen kan! Was ſoll ich
wimmern? Mein Schickſal iſt in deinen Haͤnden wohl aufbe-
wahrt. Jch bin uͤberzeugt, daß du mich mit Decembertagen,
mit Armut, Leiden und Krankheit verſchonteſt, wenn es irgend
zu meinem Beſten gereichte. Und was darf ich klagen? Das
meiſte Ungewitter mache ich mir ja ſelbſt. Denn wenn ich in
dieſem Welthoſpitale uͤber Krankheiten und Todesfaͤlle murre;
wenn ich hier keine Guͤter verlieren und miſſen will, da ich ſie doch
ſaͤmtlich dereinſt hinterlaſſen muß; wenn ich im taͤglichen Kampfe
mit Suͤnden und Suͤndern ſtets unverwundet davon kommen
will: dann verlange ich unmoͤgliche Dinge. Meine Klagen ſind
aber nicht gerechter, als wenn ein gewarntes Kind ſtrauchelt und
faͤlt. Jſt es klug, ſo ſtehet es bei etwas verzogner Miene auf,
und troͤſtet ſich damit, daß es nun bald des Fallhuts werde ent-
behren koͤnnen.
So, Vater! will ich dein Kind, getroͤſtet an deiner Hand
aufſtehen, ſo oft mich ein Ungemach fallen ließ. Die Fall- und
Leidenszeit dauert ja nicht lange; und gehen muͤſſen wir doch mit
einiger Gefahr lernen. Die hundert Thraͤnen, die du mir noch
zu weinen beſtimmt haſt, werden durch Weichlichkeit und Unge-
duld in zehntauſend verwandelt. Vieleicht iſt meine Lebenszeit
ſchon im Februar; die duͤſtern und froſtigen Monate ſind mei-
ſtens uͤberſtanden, und bald bricht mein ewiger Fruͤhling an.
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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