Gib mir doch Weisheit und Verstand, Dich, Gott! und den, den du gesandt, Und mich selbst zu erkennen!
Jch bin des Verstandes nicht werth, wenn ich ihn nicht vor- nemlich zur Erkentniß Gottes und Jesu anstrenge. Was ist Religion ohne Nachdenken? Die heilige Schrift befielt: alles zu prüfen, und das beste zu behalten, auf daß man Grund seines Glaubens und der Hofnung, die in uns ist, anzugeben wisse. Bedarf es keiner Untersuchungen, so sind alle Religionen gleich gut, und die Verehrung Gottes ist willkührlich. Welcher Ge- fahr setzet nicht der Köhlerglaube, oder eine Religion, die man wie ein blosses Erbstück von seinen Eltern angenommen hat, bei Anfällen der Feinde aus! Soll denn ein jüdischer Knabe, oder ein witzelnder Freigeist mir meinen Erlöser, folglich alle meine Ruhe und Hofnung verdächtig machen können? Und wie trocken, wie unschmackhaft muß mir nicht eine Sache seyn, bei der ich nichts gedenken kan!
Jch bin ein Christ: aber warum und wie bin ich es? Bin ich es etwa nur, weil es meine Eltern und Lehrer waren? Glaube ich nur, was die Kirche glaubt, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben? Zugegeben, daß die Vernunft Geheimnisse der Reli- gion nicht ergründen kan, so muß sie doch wissen, warum ich sie glauben soll. Zugestanden, daß ich nicht Zeit und Fähigkeit habe, allen Subtilitäten theologischer Lehrbücher nachzuhängen: so muß ich doch meinen Glauben gegen meines gleichen vertheidi- gen können.
Schwie-
T 2
Der 20te Mai.
Gib mir doch Weisheit und Verſtand, Dich, Gott! und den, den du geſandt, Und mich ſelbſt zu erkennen!
Jch bin des Verſtandes nicht werth, wenn ich ihn nicht vor- nemlich zur Erkentniß Gottes und Jeſu anſtrenge. Was iſt Religion ohne Nachdenken? Die heilige Schrift befielt: alles zu pruͤfen, und das beſte zu behalten, auf daß man Grund ſeines Glaubens und der Hofnung, die in uns iſt, anzugeben wiſſe. Bedarf es keiner Unterſuchungen, ſo ſind alle Religionen gleich gut, und die Verehrung Gottes iſt willkuͤhrlich. Welcher Ge- fahr ſetzet nicht der Koͤhlerglaube, oder eine Religion, die man wie ein bloſſes Erbſtuͤck von ſeinen Eltern angenommen hat, bei Anfaͤllen der Feinde aus! Soll denn ein juͤdiſcher Knabe, oder ein witzelnder Freigeiſt mir meinen Erloͤſer, folglich alle meine Ruhe und Hofnung verdaͤchtig machen koͤnnen? Und wie trocken, wie unſchmackhaft muß mir nicht eine Sache ſeyn, bei der ich nichts gedenken kan!
Jch bin ein Chriſt: aber warum und wie bin ich es? Bin ich es etwa nur, weil es meine Eltern und Lehrer waren? Glaube ich nur, was die Kirche glaubt, ohne jemals daruͤber nachgedacht zu haben? Zugegeben, daß die Vernunft Geheimniſſe der Reli- gion nicht ergruͤnden kan, ſo muß ſie doch wiſſen, warum ich ſie glauben ſoll. Zugeſtanden, daß ich nicht Zeit und Faͤhigkeit habe, allen Subtilitaͤten theologiſcher Lehrbuͤcher nachzuhaͤngen: ſo muß ich doch meinen Glauben gegen meines gleichen vertheidi- gen koͤnnen.
Schwie-
T 2
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[291[321]/0328]
Der 20te Mai.
Gib mir doch Weisheit und Verſtand,
Dich, Gott! und den, den du geſandt,
Und mich ſelbſt zu erkennen!
Jch bin des Verſtandes nicht werth, wenn ich ihn nicht vor-
nemlich zur Erkentniß Gottes und Jeſu anſtrenge. Was iſt
Religion ohne Nachdenken? Die heilige Schrift befielt: alles zu
pruͤfen, und das beſte zu behalten, auf daß man Grund ſeines
Glaubens und der Hofnung, die in uns iſt, anzugeben wiſſe.
Bedarf es keiner Unterſuchungen, ſo ſind alle Religionen gleich
gut, und die Verehrung Gottes iſt willkuͤhrlich. Welcher Ge-
fahr ſetzet nicht der Koͤhlerglaube, oder eine Religion, die
man wie ein bloſſes Erbſtuͤck von ſeinen Eltern angenommen hat,
bei Anfaͤllen der Feinde aus! Soll denn ein juͤdiſcher Knabe, oder
ein witzelnder Freigeiſt mir meinen Erloͤſer, folglich alle meine
Ruhe und Hofnung verdaͤchtig machen koͤnnen? Und wie trocken,
wie unſchmackhaft muß mir nicht eine Sache ſeyn, bei der ich
nichts gedenken kan!
Jch bin ein Chriſt: aber warum und wie bin ich es? Bin ich
es etwa nur, weil es meine Eltern und Lehrer waren? Glaube ich
nur, was die Kirche glaubt, ohne jemals daruͤber nachgedacht
zu haben? Zugegeben, daß die Vernunft Geheimniſſe der Reli-
gion nicht ergruͤnden kan, ſo muß ſie doch wiſſen, warum ich ſie
glauben ſoll. Zugeſtanden, daß ich nicht Zeit und Faͤhigkeit
habe, allen Subtilitaͤten theologiſcher Lehrbuͤcher nachzuhaͤngen:
ſo muß ich doch meinen Glauben gegen meines gleichen vertheidi-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 291[321]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/328>, abgerufen am 21.11.2024.
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