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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 19te Mai.
Jch lobe dich und preise
Dich, o mein Gott! allein.
Wer ist, wie du, so weise?
Verstand und Rath ist dein!
Laß immer meinen Geist,
Jn allen deinen Werken,
Auf deine Weisheit merken
Die auch der Engel preist!


Der verständige Beobachter der Werke Gottes
hält in dieser Jahrszeit seine Ernte; selbst der Gottlose kan
sich nicht enthalten, sie schön zu finden. Jedoch Augen, Mund und
Ohren sind nicht hinlänglich, gehörig davon zu urtheilen. Ohne
Verstand und Nachdenken bleibet dennoch alles mittelmäßig. Ein
Wandrer, der bei finstrer Nacht in den längsten Alleen, unter
Statüen, Grotten und Fontänen herumirret: was weiß der von
allen diesen Schönheiten? Die dürre gebahnte Landstrasse verlan-
get er, und verwickelt sich nur in Blumen und Hecken. Ohne
Tageslicht verliert der fürstlichen Garten seine Pracht.

Mensch! die Frömmigkeit ist dieses nothwendige Licht. Ohne
sie bleibt alle Pracht des Frühlings Verwirrung. Der einsichts-
vollste Gottlose ist dem verirrten nächtlichen Wandrer gleich; er
siehet wenig Schönes, und auch das nur mit Unmuth. Mürrisch
tappt er umher, wo am Tage der Kenner entzückend stille steht
und betrachtet. Symmetrie und abstechende Schönheiten setzen
Geschmack und angestellte Vergleichungen voraus. Vollkom-
menheiten entdecken wir nur, wenn wir die innere Beschaffenheit
eines Dinges und seine Wirkungen einsehn. Mit Einem Wor-

te:
Tiedens Abendand. I. Th. T


Der 19te Mai.
Jch lobe dich und preiſe
Dich, o mein Gott! allein.
Wer iſt, wie du, ſo weiſe?
Verſtand und Rath iſt dein!
Laß immer meinen Geiſt,
Jn allen deinen Werken,
Auf deine Weisheit merken
Die auch der Engel preiſt!


Der verſtaͤndige Beobachter der Werke Gottes
haͤlt in dieſer Jahrszeit ſeine Ernte; ſelbſt der Gottloſe kan
ſich nicht enthalten, ſie ſchoͤn zu finden. Jedoch Augen, Mund und
Ohren ſind nicht hinlaͤnglich, gehoͤrig davon zu urtheilen. Ohne
Verſtand und Nachdenken bleibet dennoch alles mittelmaͤßig. Ein
Wandrer, der bei finſtrer Nacht in den laͤngſten Alleen, unter
Statuͤen, Grotten und Fontaͤnen herumirret: was weiß der von
allen dieſen Schoͤnheiten? Die duͤrre gebahnte Landſtraſſe verlan-
get er, und verwickelt ſich nur in Blumen und Hecken. Ohne
Tageslicht verliert der fuͤrſtlichen Garten ſeine Pracht.

Menſch! die Froͤmmigkeit iſt dieſes nothwendige Licht. Ohne
ſie bleibt alle Pracht des Fruͤhlings Verwirrung. Der einſichts-
vollſte Gottloſe iſt dem verirrten naͤchtlichen Wandrer gleich; er
ſiehet wenig Schoͤnes, und auch das nur mit Unmuth. Muͤrriſch
tappt er umher, wo am Tage der Kenner entzuͤckend ſtille ſteht
und betrachtet. Symmetrie und abſtechende Schoͤnheiten ſetzen
Geſchmack und angeſtellte Vergleichungen voraus. Vollkom-
menheiten entdecken wir nur, wenn wir die innere Beſchaffenheit
eines Dinges und ſeine Wirkungen einſehn. Mit Einem Wor-

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Tiedens Abendand. I. Th. T
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[289[319]/0326] Der 19te Mai. Jch lobe dich und preiſe Dich, o mein Gott! allein. Wer iſt, wie du, ſo weiſe? Verſtand und Rath iſt dein! Laß immer meinen Geiſt, Jn allen deinen Werken, Auf deine Weisheit merken Die auch der Engel preiſt! Der verſtaͤndige Beobachter der Werke Gottes haͤlt in dieſer Jahrszeit ſeine Ernte; ſelbſt der Gottloſe kan ſich nicht enthalten, ſie ſchoͤn zu finden. Jedoch Augen, Mund und Ohren ſind nicht hinlaͤnglich, gehoͤrig davon zu urtheilen. Ohne Verſtand und Nachdenken bleibet dennoch alles mittelmaͤßig. Ein Wandrer, der bei finſtrer Nacht in den laͤngſten Alleen, unter Statuͤen, Grotten und Fontaͤnen herumirret: was weiß der von allen dieſen Schoͤnheiten? Die duͤrre gebahnte Landſtraſſe verlan- get er, und verwickelt ſich nur in Blumen und Hecken. Ohne Tageslicht verliert der fuͤrſtlichen Garten ſeine Pracht. Menſch! die Froͤmmigkeit iſt dieſes nothwendige Licht. Ohne ſie bleibt alle Pracht des Fruͤhlings Verwirrung. Der einſichts- vollſte Gottloſe iſt dem verirrten naͤchtlichen Wandrer gleich; er ſiehet wenig Schoͤnes, und auch das nur mit Unmuth. Muͤrriſch tappt er umher, wo am Tage der Kenner entzuͤckend ſtille ſteht und betrachtet. Symmetrie und abſtechende Schoͤnheiten ſetzen Geſchmack und angeſtellte Vergleichungen voraus. Vollkom- menheiten entdecken wir nur, wenn wir die innere Beſchaffenheit eines Dinges und ſeine Wirkungen einſehn. Mit Einem Wor- te: Tiedens Abendand. I. Th. T

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 289[319]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/326>, abgerufen am 22.11.2024.