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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 15te Mai.
Gott schuf die Welt nicht blos für mich:
Der Wurm ist sein Geschöpf, wie ich.


Wenn uns das Vorurtheil, für uns sey alles da, un-
ter die Werke der Natur begleitet: so stossen wir alle Au-
genblick auf Geschöpfe, welche uns zum Tadel und Mißvergnü-
gen verleiten. Was soll der Dornstrauch, die Wolfsmilch, die
Kröte, die Spinne, der Bär?

Eingebildeter Mensch! deinetwegen konten sie vieleicht un-
erschaffeu bleiben, ohnerachtet sie dir vieleicht mittelbar, durch
die zehnte elfte Hand unentbehrlich sind. Aber warum stellest du
dich in den Mittelpunkt der Schöpfung, und verlangest, daß
alles nur für dich da seyn soll? Sehr viel ward dir zum Nutzen
und Vergnügen erschaffen, aber gewiß nicht alles. Der Schö-
pfer schuf seiner Eigenschaften, nicht aber blos deines Vortheils
wegen. Er will in seinen Werken gepriesen seyn, nicht nur von
dir, sondern auch von andern Geschöpfen höherer oder niedrigerer
Art als du bist. Wie thörigt aber setzest du dich an des Schö-
pfers Stelle, und suchest nur dich in der Natur! Wie? wenn
der Löwe spräche: ich bin der König der Geschöpfe; um meinet-
willen mußten auch Menschen da seyn, damit sie mir Thiere fut-
tern, oder selbst zur Speise dienen mögten!

Dein Hochmuth, o Mensch! ist unausstehlich. Es ist mein,
spricht Gott beim Hiob, was unter allen Himmeln ist. Meinest
du, der Leviathan (Krokodil) werde mit dir einen Bund machen,
daß du ihn immer zum Knechte habest? Wenn du deine Hand an
ihn legest, so gedenke, daß ein Streit sey, den du nicht ausfüh-
ren wirst. Weg also mit dem stolzen Gedanken: Gott durfte
nichts erschaffen, als was der Mensch genehm hielt. Freilich hätte
der Bandwurm alsdann sein Daseyn nicht, und die Schöpfung

würde
S 5


Der 15te Mai.
Gott ſchuf die Welt nicht blos fuͤr mich:
Der Wurm iſt ſein Geſchoͤpf, wie ich.


Wenn uns das Vorurtheil, fuͤr uns ſey alles da, un-
ter die Werke der Natur begleitet: ſo ſtoſſen wir alle Au-
genblick auf Geſchoͤpfe, welche uns zum Tadel und Mißvergnuͤ-
gen verleiten. Was ſoll der Dornſtrauch, die Wolfsmilch, die
Kroͤte, die Spinne, der Baͤr?

Eingebildeter Menſch! deinetwegen konten ſie vieleicht un-
erſchaffeu bleiben, ohnerachtet ſie dir vieleicht mittelbar, durch
die zehnte elfte Hand unentbehrlich ſind. Aber warum ſtelleſt du
dich in den Mittelpunkt der Schoͤpfung, und verlangeſt, daß
alles nur fuͤr dich da ſeyn ſoll? Sehr viel ward dir zum Nutzen
und Vergnuͤgen erſchaffen, aber gewiß nicht alles. Der Schoͤ-
pfer ſchuf ſeiner Eigenſchaften, nicht aber blos deines Vortheils
wegen. Er will in ſeinen Werken geprieſen ſeyn, nicht nur von
dir, ſondern auch von andern Geſchoͤpfen hoͤherer oder niedrigerer
Art als du biſt. Wie thoͤrigt aber ſetzeſt du dich an des Schoͤ-
pfers Stelle, und ſucheſt nur dich in der Natur! Wie? wenn
der Loͤwe ſpraͤche: ich bin der Koͤnig der Geſchoͤpfe; um meinet-
willen mußten auch Menſchen da ſeyn, damit ſie mir Thiere fut-
tern, oder ſelbſt zur Speiſe dienen moͤgten!

Dein Hochmuth, o Menſch! iſt unausſtehlich. Es iſt mein,
ſpricht Gott beim Hiob, was unter allen Himmeln iſt. Meineſt
du, der Leviathan (Krokodil) werde mit dir einen Bund machen,
daß du ihn immer zum Knechte habeſt? Wenn du deine Hand an
ihn legeſt, ſo gedenke, daß ein Streit ſey, den du nicht ausfuͤh-
ren wirſt. Weg alſo mit dem ſtolzen Gedanken: Gott durfte
nichts erſchaffen, als was der Menſch genehm hielt. Freilich haͤtte
der Bandwurm alsdann ſein Daſeyn nicht, und die Schoͤpfung

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S 5
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[281[311]/0318] Der 15te Mai. Gott ſchuf die Welt nicht blos fuͤr mich: Der Wurm iſt ſein Geſchoͤpf, wie ich. Wenn uns das Vorurtheil, fuͤr uns ſey alles da, un- ter die Werke der Natur begleitet: ſo ſtoſſen wir alle Au- genblick auf Geſchoͤpfe, welche uns zum Tadel und Mißvergnuͤ- gen verleiten. Was ſoll der Dornſtrauch, die Wolfsmilch, die Kroͤte, die Spinne, der Baͤr? Eingebildeter Menſch! deinetwegen konten ſie vieleicht un- erſchaffeu bleiben, ohnerachtet ſie dir vieleicht mittelbar, durch die zehnte elfte Hand unentbehrlich ſind. Aber warum ſtelleſt du dich in den Mittelpunkt der Schoͤpfung, und verlangeſt, daß alles nur fuͤr dich da ſeyn ſoll? Sehr viel ward dir zum Nutzen und Vergnuͤgen erſchaffen, aber gewiß nicht alles. Der Schoͤ- pfer ſchuf ſeiner Eigenſchaften, nicht aber blos deines Vortheils wegen. Er will in ſeinen Werken geprieſen ſeyn, nicht nur von dir, ſondern auch von andern Geſchoͤpfen hoͤherer oder niedrigerer Art als du biſt. Wie thoͤrigt aber ſetzeſt du dich an des Schoͤ- pfers Stelle, und ſucheſt nur dich in der Natur! Wie? wenn der Loͤwe ſpraͤche: ich bin der Koͤnig der Geſchoͤpfe; um meinet- willen mußten auch Menſchen da ſeyn, damit ſie mir Thiere fut- tern, oder ſelbſt zur Speiſe dienen moͤgten! Dein Hochmuth, o Menſch! iſt unausſtehlich. Es iſt mein, ſpricht Gott beim Hiob, was unter allen Himmeln iſt. Meineſt du, der Leviathan (Krokodil) werde mit dir einen Bund machen, daß du ihn immer zum Knechte habeſt? Wenn du deine Hand an ihn legeſt, ſo gedenke, daß ein Streit ſey, den du nicht ausfuͤh- ren wirſt. Weg alſo mit dem ſtolzen Gedanken: Gott durfte nichts erſchaffen, als was der Menſch genehm hielt. Freilich haͤtte der Bandwurm alsdann ſein Daſeyn nicht, und die Schoͤpfung wuͤrde S 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 281[311]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/318>, abgerufen am 22.11.2024.