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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 12te Mai.
ohne Dankbarkeit, ohne die geringste Verwunderung. Gleich als
müßte es so seyn, daß tausend Uhrwerke auf meinem Befehl in den
Gang kämen, um meinem despotischen Willen zu gehorchen. So
wirst du, gütigster Allweiser! behandelt, da wir hingegen einem
Taschenspieler mit Erstaunen zusehen. Und hättest du uns Flügel
der Morgenröthe, und die Geschicklichkeit aller Thierarten gege-
ben; was wir besitzen, achten wir nicht. Was du uns gabst,
sehen wir wie Kleinigkeiten, oder alte Schuldfoderungen an.

Dieser wundervolle Einfluß unsers Geistes in die von ihm
gänzlich verschiedene Materie unsers Körpers, solte der nicht we-
nigstens den Menschen so demütig machen, daß er sich nicht er-
frechte, mit seinem kleinen Verstande Gott ausmessen zu wollen?
Es sollen in der Religion keine Geheimnisse gelten, und fast alles in
der Welt, wir selbst sind uns ein Geheimniß! Geh elender Thor!
mit deinen Spöttereien, welche von der Unbegreiflichkeit mancher
Glaubenslehren hergenommen werden! Nichts ist unbegreiflicher,
als daß du so undankbar gegen deinen himlischen Vater bist.

Herr! ich danke dir darüber, daß ich so wunderbarlich ge-
macht bin. Erzengel grübeln vieleicht noch über den genauen Zu-
sammenhang meiner Seele mit ihrem Körper, und schwindeln über
die Tiefe göttlicher Weisheit. Mir bleibt also nichts übrig, als --
anbeten. Mein freier Wille kan durch nichts gebändiget werden.
Jch kan Leben und Tod, Himmel und Hölle erwählen: ich kan
meine Glieder zur Verherlichung, oder Verunehrung Gottes ge-
brauchen; ich kan jetzt beten oder fluchen, schlafen oder einen
Mord begehen: -- o! wie gefährlich ist diese Macht für mich
Unbesonnenen! Wie unglücklich, wenn ich meinen Willen nicht
deinen Gesetzen unterwerfe, mein Gott! denn es komt eine Zeit,
wo diese meine Macht aufhört, wo ich nicht mehr sagen kan: ich
will. Schon im hohen Alter kan ich meinem Körper wenig mehr
gebieten, und wer mag in der Hölle die Hände falten und anbeten!
Jetzt kan, jetzt will ich noch mit Lust und Dank an Gott gedenken.

Der

Der 12te Mai.
ohne Dankbarkeit, ohne die geringſte Verwunderung. Gleich als
muͤßte es ſo ſeyn, daß tauſend Uhrwerke auf meinem Befehl in den
Gang kaͤmen, um meinem deſpotiſchen Willen zu gehorchen. So
wirſt du, guͤtigſter Allweiſer! behandelt, da wir hingegen einem
Taſchenſpieler mit Erſtaunen zuſehen. Und haͤtteſt du uns Fluͤgel
der Morgenroͤthe, und die Geſchicklichkeit aller Thierarten gege-
ben; was wir beſitzen, achten wir nicht. Was du uns gabſt,
ſehen wir wie Kleinigkeiten, oder alte Schuldfoderungen an.

Dieſer wundervolle Einfluß unſers Geiſtes in die von ihm
gaͤnzlich verſchiedene Materie unſers Koͤrpers, ſolte der nicht we-
nigſtens den Menſchen ſo demuͤtig machen, daß er ſich nicht er-
frechte, mit ſeinem kleinen Verſtande Gott ausmeſſen zu wollen?
Es ſollen in der Religion keine Geheimniſſe gelten, und faſt alles in
der Welt, wir ſelbſt ſind uns ein Geheimniß! Geh elender Thor!
mit deinen Spoͤttereien, welche von der Unbegreiflichkeit mancher
Glaubenslehren hergenommen werden! Nichts iſt unbegreiflicher,
als daß du ſo undankbar gegen deinen himliſchen Vater biſt.

Herr! ich danke dir daruͤber, daß ich ſo wunderbarlich ge-
macht bin. Erzengel gruͤbeln vieleicht noch uͤber den genauen Zu-
ſammenhang meiner Seele mit ihrem Koͤrper, und ſchwindeln uͤber
die Tiefe goͤttlicher Weisheit. Mir bleibt alſo nichts uͤbrig, als —
anbeten. Mein freier Wille kan durch nichts gebaͤndiget werden.
Jch kan Leben und Tod, Himmel und Hoͤlle erwaͤhlen: ich kan
meine Glieder zur Verherlichung, oder Verunehrung Gottes ge-
brauchen; ich kan jetzt beten oder fluchen, ſchlafen oder einen
Mord begehen: — o! wie gefaͤhrlich iſt dieſe Macht fuͤr mich
Unbeſonnenen! Wie ungluͤcklich, wenn ich meinen Willen nicht
deinen Geſetzen unterwerfe, mein Gott! denn es komt eine Zeit,
wo dieſe meine Macht aufhoͤrt, wo ich nicht mehr ſagen kan: ich
will. Schon im hohen Alter kan ich meinem Koͤrper wenig mehr
gebieten, und wer mag in der Hoͤlle die Haͤnde falten und anbeten!
Jetzt kan, jetzt will ich noch mit Luſt und Dank an Gott gedenken.

Der
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[276[306]/0313] Der 12te Mai. ohne Dankbarkeit, ohne die geringſte Verwunderung. Gleich als muͤßte es ſo ſeyn, daß tauſend Uhrwerke auf meinem Befehl in den Gang kaͤmen, um meinem deſpotiſchen Willen zu gehorchen. So wirſt du, guͤtigſter Allweiſer! behandelt, da wir hingegen einem Taſchenſpieler mit Erſtaunen zuſehen. Und haͤtteſt du uns Fluͤgel der Morgenroͤthe, und die Geſchicklichkeit aller Thierarten gege- ben; was wir beſitzen, achten wir nicht. Was du uns gabſt, ſehen wir wie Kleinigkeiten, oder alte Schuldfoderungen an. Dieſer wundervolle Einfluß unſers Geiſtes in die von ihm gaͤnzlich verſchiedene Materie unſers Koͤrpers, ſolte der nicht we- nigſtens den Menſchen ſo demuͤtig machen, daß er ſich nicht er- frechte, mit ſeinem kleinen Verſtande Gott ausmeſſen zu wollen? Es ſollen in der Religion keine Geheimniſſe gelten, und faſt alles in der Welt, wir ſelbſt ſind uns ein Geheimniß! Geh elender Thor! mit deinen Spoͤttereien, welche von der Unbegreiflichkeit mancher Glaubenslehren hergenommen werden! Nichts iſt unbegreiflicher, als daß du ſo undankbar gegen deinen himliſchen Vater biſt. Herr! ich danke dir daruͤber, daß ich ſo wunderbarlich ge- macht bin. Erzengel gruͤbeln vieleicht noch uͤber den genauen Zu- ſammenhang meiner Seele mit ihrem Koͤrper, und ſchwindeln uͤber die Tiefe goͤttlicher Weisheit. Mir bleibt alſo nichts uͤbrig, als — anbeten. Mein freier Wille kan durch nichts gebaͤndiget werden. Jch kan Leben und Tod, Himmel und Hoͤlle erwaͤhlen: ich kan meine Glieder zur Verherlichung, oder Verunehrung Gottes ge- brauchen; ich kan jetzt beten oder fluchen, ſchlafen oder einen Mord begehen: — o! wie gefaͤhrlich iſt dieſe Macht fuͤr mich Unbeſonnenen! Wie ungluͤcklich, wenn ich meinen Willen nicht deinen Geſetzen unterwerfe, mein Gott! denn es komt eine Zeit, wo dieſe meine Macht aufhoͤrt, wo ich nicht mehr ſagen kan: ich will. Schon im hohen Alter kan ich meinem Koͤrper wenig mehr gebieten, und wer mag in der Hoͤlle die Haͤnde falten und anbeten! Jetzt kan, jetzt will ich noch mit Luſt und Dank an Gott gedenken. Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 276[306]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/313>, abgerufen am 24.08.2024.