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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 9te Mai.
noch immer fortbauert? durch die einfachsten Gesetze dauret [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
fort -- durch Trägheit nnd Schwere der Weltkörper. Worarf
stehen die Füsse der Erde versenket? Wer brach den Wogen des
Meers ihren Lauf mit einem unnachahmlichen göttlichen Damm?
und setzte ihnen Riegel und Thüre mit -- Sand? O! ich sinde
meinen unbegreiflichen Schöpfer allenthalben! Alle meine Triebe
sind kleine Unruhen, welche mich zu gewissen oft grossen und weit-
läuftigen Handlungen bewegen. Nur Ein Exempel! Solten
die Menschen bestehen, so mußten sie gezwungen werden, bei Er-
ziehung der Kinder weder Mühe noch Kosten zu scheuen. Wie
groß war diese Absicht, und wie einfach die Ausführung derselben!
Die Einbildung: das ist mein Kind! bringet alle diese Würkung
hervor. Tauschet dem silzigsten Vater, der gemächlichsten Dame
ihr Kind um; und wär es das schlechteste Kind eines Bettlers:
die Einbildung: das ist mein Kind, lehret die Mutter wachen
und den Vater Geld ausgeben. Machet es im Gegentheil Eltern
wahrscheinlich, daß ihr bisher geliebtes Kind ihnen untergeschoben
sey: so gleich lässet ihre Zärtlichkeit gegen dasselbe merklich nach.
Der Gedanke: ich bin der Vater, ich bin die Mutter, macht das
häßlichste Kind schön, und man vertauschte es für kein anders.

Jch bin jetzt müde und entkräftet: aber mit wenigen Anstal-
ten werde ich wieder wie neu geboren. Die Natur rufet mich zum
Schlafe. Wie weislich, daß er nicht von unsrer Willkühr ab-
hängt! Viele würden wachen, bis sie todt zur Erde fielen: so aber
fallen die Augenlieder von selbst zu. Die Müdigkeit vereitelt unsre
Wachgier, und verhütet, daß wir uns nicht übernehmen können.
Wie höchst gütig bist du, mein Vater! An einem ungesehenen
Leitbande führest du mich so sicher, daß ich mir so wenig Schaden
als möglich zufügen kan; wachend und schlafend bin ich ein Kind
an deiner Hand! Sprich nur Ein Wort, so leb ich ewig. Jedoch
du sprichst es gerne, wenn ich nur nicht so stumm zum beten
wäre!

Der

Der 9te Mai.
noch immer fortbauert? durch die einfachſten Geſetze dauret [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]
fort — durch Traͤgheit nnd Schwere der Weltkoͤrper. Worarf
ſtehen die Fuͤſſe der Erde verſenket? Wer brach den Wogen des
Meers ihren Lauf mit einem unnachahmlichen goͤttlichen Damm?
und ſetzte ihnen Riegel und Thuͤre mit — Sand? O! ich ſinde
meinen unbegreiflichen Schoͤpfer allenthalben! Alle meine Triebe
ſind kleine Unruhen, welche mich zu gewiſſen oft groſſen und weit-
laͤuftigen Handlungen bewegen. Nur Ein Exempel! Solten
die Menſchen beſtehen, ſo mußten ſie gezwungen werden, bei Er-
ziehung der Kinder weder Muͤhe noch Koſten zu ſcheuen. Wie
groß war dieſe Abſicht, und wie einfach die Ausfuͤhrung derſelben!
Die Einbildung: das iſt mein Kind! bringet alle dieſe Wuͤrkung
hervor. Tauſchet dem ſilzigſten Vater, der gemaͤchlichſten Dame
ihr Kind um; und waͤr es das ſchlechteſte Kind eines Bettlers:
die Einbildung: das iſt mein Kind, lehret die Mutter wachen
und den Vater Geld ausgeben. Machet es im Gegentheil Eltern
wahrſcheinlich, daß ihr bisher geliebtes Kind ihnen untergeſchoben
ſey: ſo gleich laͤſſet ihre Zaͤrtlichkeit gegen daſſelbe merklich nach.
Der Gedanke: ich bin der Vater, ich bin die Mutter, macht das
haͤßlichſte Kind ſchoͤn, und man vertauſchte es fuͤr kein anders.

Jch bin jetzt muͤde und entkraͤftet: aber mit wenigen Anſtal-
ten werde ich wieder wie neu geboren. Die Natur rufet mich zum
Schlafe. Wie weislich, daß er nicht von unſrer Willkuͤhr ab-
haͤngt! Viele wuͤrden wachen, bis ſie todt zur Erde fielen: ſo aber
fallen die Augenlieder von ſelbſt zu. Die Muͤdigkeit vereitelt unſre
Wachgier, und verhuͤtet, daß wir uns nicht uͤbernehmen koͤnnen.
Wie hoͤchſt guͤtig biſt du, mein Vater! An einem ungeſehenen
Leitbande fuͤhreſt du mich ſo ſicher, daß ich mir ſo wenig Schaden
als moͤglich zufuͤgen kan; wachend und ſchlafend bin ich ein Kind
an deiner Hand! Sprich nur Ein Wort, ſo leb ich ewig. Jedoch
du ſprichſt es gerne, wenn ich nur nicht ſo ſtumm zum beten
waͤre!

Der
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[270[300]/0307] Der 9te Mai. noch immer fortbauert? durch die einfachſten Geſetze dauret _ fort — durch Traͤgheit nnd Schwere der Weltkoͤrper. Worarf ſtehen die Fuͤſſe der Erde verſenket? Wer brach den Wogen des Meers ihren Lauf mit einem unnachahmlichen goͤttlichen Damm? und ſetzte ihnen Riegel und Thuͤre mit — Sand? O! ich ſinde meinen unbegreiflichen Schoͤpfer allenthalben! Alle meine Triebe ſind kleine Unruhen, welche mich zu gewiſſen oft groſſen und weit- laͤuftigen Handlungen bewegen. Nur Ein Exempel! Solten die Menſchen beſtehen, ſo mußten ſie gezwungen werden, bei Er- ziehung der Kinder weder Muͤhe noch Koſten zu ſcheuen. Wie groß war dieſe Abſicht, und wie einfach die Ausfuͤhrung derſelben! Die Einbildung: das iſt mein Kind! bringet alle dieſe Wuͤrkung hervor. Tauſchet dem ſilzigſten Vater, der gemaͤchlichſten Dame ihr Kind um; und waͤr es das ſchlechteſte Kind eines Bettlers: die Einbildung: das iſt mein Kind, lehret die Mutter wachen und den Vater Geld ausgeben. Machet es im Gegentheil Eltern wahrſcheinlich, daß ihr bisher geliebtes Kind ihnen untergeſchoben ſey: ſo gleich laͤſſet ihre Zaͤrtlichkeit gegen daſſelbe merklich nach. Der Gedanke: ich bin der Vater, ich bin die Mutter, macht das haͤßlichſte Kind ſchoͤn, und man vertauſchte es fuͤr kein anders. Jch bin jetzt muͤde und entkraͤftet: aber mit wenigen Anſtal- ten werde ich wieder wie neu geboren. Die Natur rufet mich zum Schlafe. Wie weislich, daß er nicht von unſrer Willkuͤhr ab- haͤngt! Viele wuͤrden wachen, bis ſie todt zur Erde fielen: ſo aber fallen die Augenlieder von ſelbſt zu. Die Muͤdigkeit vereitelt unſre Wachgier, und verhuͤtet, daß wir uns nicht uͤbernehmen koͤnnen. Wie hoͤchſt guͤtig biſt du, mein Vater! An einem ungeſehenen Leitbande fuͤhreſt du mich ſo ſicher, daß ich mir ſo wenig Schaden als moͤglich zufuͤgen kan; wachend und ſchlafend bin ich ein Kind an deiner Hand! Sprich nur Ein Wort, ſo leb ich ewig. Jedoch du ſprichſt es gerne, wenn ich nur nicht ſo ſtumm zum beten waͤre! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 270[300]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/307>, abgerufen am 23.11.2024.