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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 21te April.
nossen, oder zehn Menschen das Leben errettet, wenigstens ver-
längert zu haben? Stirb! kan ein jeder Mörder oder Tauge-
nichts sagen: aber lebe! dis einem Armen und Betrübten beizu-
bringen: dazu gehöret Verstand und ein gutes Herz.

Ob ich schon gemordet habe? -- Wunderliche Frage! aber
noch wunderlicher, daß sie mir nicht eher eingefallen ist! Jch zog
neckend den Stuhl zurück; stellte mich zum Schreck hinter die
Thüre: ich würde zittern, wenn ich wüßte, was diese Neckereien
für Folgen in den Körper des Erschrocknen gehabt haben! Jch är-
gerte oder betrübte jemanden ohne Noth; (und wäre es mein
Bediente gewesen!) ich schlug Arzeneimittel vor, ohne die Krank-
heit, das Mittel, und den Kranken gehörig zu kennen! Noch ei-
nen Schritt weiter, predigendes Gewissen: -- Jch habe --
meinen Eltern -- Wohlthätern und besten Freunden -- man-
chen Verdruß -- herznagende Sorgen --

Barmherziger Gott! ich bin ein subtiler Mörder. Vie-
leicht, wann ich in jauchzender Gesellschaft von meinen Verdien-
sten sprach, klagte mich ein Verstorbner vor dir an, daß ich sei-
nen Tod beschleuniget hatte. Dort kennet jeder seine Missethat
und seine Missethäter. Dort zeiget einst jeder auf die Wunde,
welche ich seiner Seele und seinem Körper beigebracht habe! Ach!
meine Zuflucht! Herr Jesu! ich bin verloren, wenn ich mich als-
dann nicht hinter dich verbergen kan. Je grösser und verdienst-
voller ich bin, desto leichter können meine scheele Blicke und don-
nernde Worte morden. Wer mit schwerem Herzen von mir ge-
het, da ich es erleichtern konte, hat sich eine Krankheit bei mir
geholt oder vermehret. Jch müßte weinend zu Bette gehen,
wenn du, mein Heiland! reuigen Sündern nicht gerne die Thrä-
nen abtrocknetest. Habe ich je eine unerkante Mordthat mit
Gedanken, Worten oder lieblosen Handlungen begangen: Christe,
du Sohn Gottes! so erbarm dich mein und gib mir, weil ich mich
beßern will, dennoch deinen Frieden!

Der

Der 21te April.
noſſen, oder zehn Menſchen das Leben errettet, wenigſtens ver-
laͤngert zu haben? Stirb! kan ein jeder Moͤrder oder Tauge-
nichts ſagen: aber lebe! dis einem Armen und Betruͤbten beizu-
bringen: dazu gehoͤret Verſtand und ein gutes Herz.

Ob ich ſchon gemordet habe? — Wunderliche Frage! aber
noch wunderlicher, daß ſie mir nicht eher eingefallen iſt! Jch zog
neckend den Stuhl zuruͤck; ſtellte mich zum Schreck hinter die
Thuͤre: ich wuͤrde zittern, wenn ich wuͤßte, was dieſe Neckereien
fuͤr Folgen in den Koͤrper des Erſchrocknen gehabt haben! Jch aͤr-
gerte oder betruͤbte jemanden ohne Noth; (und waͤre es mein
Bediente geweſen!) ich ſchlug Arzeneimittel vor, ohne die Krank-
heit, das Mittel, und den Kranken gehoͤrig zu kennen! Noch ei-
nen Schritt weiter, predigendes Gewiſſen: — Jch habe —
meinen Eltern — Wohlthaͤtern und beſten Freunden — man-
chen Verdruß — herznagende Sorgen —

Barmherziger Gott! ich bin ein ſubtiler Moͤrder. Vie-
leicht, wann ich in jauchzender Geſellſchaft von meinen Verdien-
ſten ſprach, klagte mich ein Verſtorbner vor dir an, daß ich ſei-
nen Tod beſchleuniget hatte. Dort kennet jeder ſeine Miſſethat
und ſeine Miſſethaͤter. Dort zeiget einſt jeder auf die Wunde,
welche ich ſeiner Seele und ſeinem Koͤrper beigebracht habe! Ach!
meine Zuflucht! Herr Jeſu! ich bin verloren, wenn ich mich als-
dann nicht hinter dich verbergen kan. Je groͤſſer und verdienſt-
voller ich bin, deſto leichter koͤnnen meine ſcheele Blicke und don-
nernde Worte morden. Wer mit ſchwerem Herzen von mir ge-
het, da ich es erleichtern konte, hat ſich eine Krankheit bei mir
geholt oder vermehret. Jch muͤßte weinend zu Bette gehen,
wenn du, mein Heiland! reuigen Suͤndern nicht gerne die Thraͤ-
nen abtrockneteſt. Habe ich je eine unerkante Mordthat mit
Gedanken, Worten oder liebloſen Handlungen begangen: Chriſte,
du Sohn Gottes! ſo erbarm dich mein und gib mir, weil ich mich
beßern will, dennoch deinen Frieden!

Der
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[232[262]/0269] Der 21te April. noſſen, oder zehn Menſchen das Leben errettet, wenigſtens ver- laͤngert zu haben? Stirb! kan ein jeder Moͤrder oder Tauge- nichts ſagen: aber lebe! dis einem Armen und Betruͤbten beizu- bringen: dazu gehoͤret Verſtand und ein gutes Herz. Ob ich ſchon gemordet habe? — Wunderliche Frage! aber noch wunderlicher, daß ſie mir nicht eher eingefallen iſt! Jch zog neckend den Stuhl zuruͤck; ſtellte mich zum Schreck hinter die Thuͤre: ich wuͤrde zittern, wenn ich wuͤßte, was dieſe Neckereien fuͤr Folgen in den Koͤrper des Erſchrocknen gehabt haben! Jch aͤr- gerte oder betruͤbte jemanden ohne Noth; (und waͤre es mein Bediente geweſen!) ich ſchlug Arzeneimittel vor, ohne die Krank- heit, das Mittel, und den Kranken gehoͤrig zu kennen! Noch ei- nen Schritt weiter, predigendes Gewiſſen: — Jch habe — meinen Eltern — Wohlthaͤtern und beſten Freunden — man- chen Verdruß — herznagende Sorgen — Barmherziger Gott! ich bin ein ſubtiler Moͤrder. Vie- leicht, wann ich in jauchzender Geſellſchaft von meinen Verdien- ſten ſprach, klagte mich ein Verſtorbner vor dir an, daß ich ſei- nen Tod beſchleuniget hatte. Dort kennet jeder ſeine Miſſethat und ſeine Miſſethaͤter. Dort zeiget einſt jeder auf die Wunde, welche ich ſeiner Seele und ſeinem Koͤrper beigebracht habe! Ach! meine Zuflucht! Herr Jeſu! ich bin verloren, wenn ich mich als- dann nicht hinter dich verbergen kan. Je groͤſſer und verdienſt- voller ich bin, deſto leichter koͤnnen meine ſcheele Blicke und don- nernde Worte morden. Wer mit ſchwerem Herzen von mir ge- het, da ich es erleichtern konte, hat ſich eine Krankheit bei mir geholt oder vermehret. Jch muͤßte weinend zu Bette gehen, wenn du, mein Heiland! reuigen Suͤndern nicht gerne die Thraͤ- nen abtrockneteſt. Habe ich je eine unerkante Mordthat mit Gedanken, Worten oder liebloſen Handlungen begangen: Chriſte, du Sohn Gottes! ſo erbarm dich mein und gib mir, weil ich mich beßern will, dennoch deinen Frieden! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 232[262]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/269>, abgerufen am 02.10.2024.