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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 31te März.
Bestimst du mir ein längres Ziel,
Und werden meiner Tage viel:
So laß, Gott! meine Zuversicht!
Verlaß mich auch im Alter nicht.


Jch beschliesse jetzt einen Monat, und müßte auch mein Leben
beschliessen können. Denn mit welchem Rechte, oder unter
welchem Vorwande kan ich noch den folgenden Monat erwarten?
Jch habe abermals ein und dreißig Tage zur Vorbereitung auf
den Tod gehabt: wie viele sterben, welche nicht so viele Stunden
zur Bekehrung anwenden!

Jch bin älter geworden; zwar nur um einen Monat: aber
auch er hat glaubwürdige Zeugnisse auf mein Gesicht, oder in mei-
ner Seele niedergelegt, daß er bei mir gewesen sey. Das un-
merkliche Altern
nähert sich so leise wie unser Wachsthum,
oder wie die Sünde. Die Furchen der Stirne, und die Narben
des Gewissens werden so allmälig gegraben, daß wir es nicht be-
merken können und mögen. Nach etlichen Jahren entdeckt uns
der Spiegel immer neue Runzeln, und die Religion neue Brand-
mahle. Alsdann äussern wir unsre Bewunderung, wünschten jün-
ger und besser zu seyn: aber das ist auch fast alles, was wir dabet
thun. Da uns die Verjüngung des Körpers unmöglich wird,
so denken wir auch nicht sonderlich an die Erneuerung des Gei-
stes, und speisen uns damit ab: daß geschehene Dinge nicht zu
ändern seyen. Da doch dieser Satz nur im Reiche der Natur,
mit nichten aber im Reiche der Gnaden gilt. Hier können wir
uns verjüngen wie Adler.

Unsre Seele altert am unmerklichsten. Die Abnahme der
Augen verräth ehe unser Alter, als es unsre Einsichten thun.

Diese


Der 31te Maͤrz.
Beſtimſt du mir ein laͤngres Ziel,
Und werden meiner Tage viel:
So laß, Gott! meine Zuverſicht!
Verlaß mich auch im Alter nicht.


Jch beſchlieſſe jetzt einen Monat, und muͤßte auch mein Leben
beſchlieſſen koͤnnen. Denn mit welchem Rechte, oder unter
welchem Vorwande kan ich noch den folgenden Monat erwarten?
Jch habe abermals ein und dreißig Tage zur Vorbereitung auf
den Tod gehabt: wie viele ſterben, welche nicht ſo viele Stunden
zur Bekehrung anwenden!

Jch bin aͤlter geworden; zwar nur um einen Monat: aber
auch er hat glaubwuͤrdige Zeugniſſe auf mein Geſicht, oder in mei-
ner Seele niedergelegt, daß er bei mir geweſen ſey. Das un-
merkliche Altern
naͤhert ſich ſo leiſe wie unſer Wachsthum,
oder wie die Suͤnde. Die Furchen der Stirne, und die Narben
des Gewiſſens werden ſo allmaͤlig gegraben, daß wir es nicht be-
merken koͤnnen und moͤgen. Nach etlichen Jahren entdeckt uns
der Spiegel immer neue Runzeln, und die Religion neue Brand-
mahle. Alsdann aͤuſſern wir unſre Bewunderung, wuͤnſchten juͤn-
ger und beſſer zu ſeyn: aber das iſt auch faſt alles, was wir dabet
thun. Da uns die Verjuͤngung des Koͤrpers unmoͤglich wird,
ſo denken wir auch nicht ſonderlich an die Erneuerung des Gei-
ſtes, und ſpeiſen uns damit ab: daß geſchehene Dinge nicht zu
aͤndern ſeyen. Da doch dieſer Satz nur im Reiche der Natur,
mit nichten aber im Reiche der Gnaden gilt. Hier koͤnnen wir
uns verjuͤngen wie Adler.

Unſre Seele altert am unmerklichſten. Die Abnahme der
Augen verraͤth ehe unſer Alter, als es unſre Einſichten thun.

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[187[217]/0224] Der 31te Maͤrz. Beſtimſt du mir ein laͤngres Ziel, Und werden meiner Tage viel: So laß, Gott! meine Zuverſicht! Verlaß mich auch im Alter nicht. Jch beſchlieſſe jetzt einen Monat, und muͤßte auch mein Leben beſchlieſſen koͤnnen. Denn mit welchem Rechte, oder unter welchem Vorwande kan ich noch den folgenden Monat erwarten? Jch habe abermals ein und dreißig Tage zur Vorbereitung auf den Tod gehabt: wie viele ſterben, welche nicht ſo viele Stunden zur Bekehrung anwenden! Jch bin aͤlter geworden; zwar nur um einen Monat: aber auch er hat glaubwuͤrdige Zeugniſſe auf mein Geſicht, oder in mei- ner Seele niedergelegt, daß er bei mir geweſen ſey. Das un- merkliche Altern naͤhert ſich ſo leiſe wie unſer Wachsthum, oder wie die Suͤnde. Die Furchen der Stirne, und die Narben des Gewiſſens werden ſo allmaͤlig gegraben, daß wir es nicht be- merken koͤnnen und moͤgen. Nach etlichen Jahren entdeckt uns der Spiegel immer neue Runzeln, und die Religion neue Brand- mahle. Alsdann aͤuſſern wir unſre Bewunderung, wuͤnſchten juͤn- ger und beſſer zu ſeyn: aber das iſt auch faſt alles, was wir dabet thun. Da uns die Verjuͤngung des Koͤrpers unmoͤglich wird, ſo denken wir auch nicht ſonderlich an die Erneuerung des Gei- ſtes, und ſpeiſen uns damit ab: daß geſchehene Dinge nicht zu aͤndern ſeyen. Da doch dieſer Satz nur im Reiche der Natur, mit nichten aber im Reiche der Gnaden gilt. Hier koͤnnen wir uns verjuͤngen wie Adler. Unſre Seele altert am unmerklichſten. Die Abnahme der Augen verraͤth ehe unſer Alter, als es unſre Einſichten thun. Dieſe

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 187[217]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/224>, abgerufen am 23.11.2024.