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Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Clara sah nun ein, daß dieser rettende Engel jener Jugendfreund, der vielbesprochene Vandelmeer sei.

Sie erholten sich von der Freude, von der Ueberraschung. Das Geschick Heinrich's rührte Andreas tief; dann mußte er über die seltsame Verlegenheit und die Aushülfe lachen, dann bewunderte er wieder die Schönheit Clara's, und beide Freunde konnten es nicht müde werden, die Erinnerung jugendlicher Scenen wiederzubeleben und in diesen Gefühlen und Rührungen zu schwelgen.

Aber nun laß uns auch vernünftig sprechen, sagte Andreas. Dein Capital, welches du mir damals bei meiner Abreise anvertrautest, hat in Indien so gewuchert, daß du dich jetzt einen reichen Mann nennen kannst; du kannst also jetzt unabhängig leben, wie und wo du willst. In der Freude, dich bald wiederzusehen, stieg ich in London ans Land, weil ich dort einige Geldgeschäfte zu berichtigen hatte. Ich verfüge mich wieder zu meinem Bücherantiquar, um für deine Liebhaberei an Alterthümern ein artiges Geschenk auszusuchen. Sieh da, sage ich zu mir selber, da hat ja Jemand den Chaucer in demselben eigensinnigen Geschmack binden lassen, wie ich die Art damals für dich ersann. Ich nehme das Buch in die Hand und erschrecke, denn es ist das deinige. Nun wußte ich schon genug und zu viel von dir; denn nur Noth hatte dich bewegen können, es wegzugeben, wenn es dir nicht gestohlen war. Zugleich fand ich, und zu unser Beider

Clara sah nun ein, daß dieser rettende Engel jener Jugendfreund, der vielbesprochene Vandelmeer sei.

Sie erholten sich von der Freude, von der Ueberraschung. Das Geschick Heinrich's rührte Andreas tief; dann mußte er über die seltsame Verlegenheit und die Aushülfe lachen, dann bewunderte er wieder die Schönheit Clara's, und beide Freunde konnten es nicht müde werden, die Erinnerung jugendlicher Scenen wiederzubeleben und in diesen Gefühlen und Rührungen zu schwelgen.

Aber nun laß uns auch vernünftig sprechen, sagte Andreas. Dein Capital, welches du mir damals bei meiner Abreise anvertrautest, hat in Indien so gewuchert, daß du dich jetzt einen reichen Mann nennen kannst; du kannst also jetzt unabhängig leben, wie und wo du willst. In der Freude, dich bald wiederzusehen, stieg ich in London ans Land, weil ich dort einige Geldgeschäfte zu berichtigen hatte. Ich verfüge mich wieder zu meinem Bücherantiquar, um für deine Liebhaberei an Alterthümern ein artiges Geschenk auszusuchen. Sieh da, sage ich zu mir selber, da hat ja Jemand den Chaucer in demselben eigensinnigen Geschmack binden lassen, wie ich die Art damals für dich ersann. Ich nehme das Buch in die Hand und erschrecke, denn es ist das deinige. Nun wußte ich schon genug und zu viel von dir; denn nur Noth hatte dich bewegen können, es wegzugeben, wenn es dir nicht gestohlen war. Zugleich fand ich, und zu unser Beider

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[0084] Clara sah nun ein, daß dieser rettende Engel jener Jugendfreund, der vielbesprochene Vandelmeer sei. Sie erholten sich von der Freude, von der Ueberraschung. Das Geschick Heinrich's rührte Andreas tief; dann mußte er über die seltsame Verlegenheit und die Aushülfe lachen, dann bewunderte er wieder die Schönheit Clara's, und beide Freunde konnten es nicht müde werden, die Erinnerung jugendlicher Scenen wiederzubeleben und in diesen Gefühlen und Rührungen zu schwelgen. Aber nun laß uns auch vernünftig sprechen, sagte Andreas. Dein Capital, welches du mir damals bei meiner Abreise anvertrautest, hat in Indien so gewuchert, daß du dich jetzt einen reichen Mann nennen kannst; du kannst also jetzt unabhängig leben, wie und wo du willst. In der Freude, dich bald wiederzusehen, stieg ich in London ans Land, weil ich dort einige Geldgeschäfte zu berichtigen hatte. Ich verfüge mich wieder zu meinem Bücherantiquar, um für deine Liebhaberei an Alterthümern ein artiges Geschenk auszusuchen. Sieh da, sage ich zu mir selber, da hat ja Jemand den Chaucer in demselben eigensinnigen Geschmack binden lassen, wie ich die Art damals für dich ersann. Ich nehme das Buch in die Hand und erschrecke, denn es ist das deinige. Nun wußte ich schon genug und zu viel von dir; denn nur Noth hatte dich bewegen können, es wegzugeben, wenn es dir nicht gestohlen war. Zugleich fand ich, und zu unser Beider

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:30:27Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:30:27Z)

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/84>, abgerufen am 27.04.2024.