Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.zu lieb, aus dieser Täuschung herauszureißen, die uns die Erscheinung und das verhüllte Innere bietet. Auch der Forscher wird aus der Täuschung der Schönheit nur in eine andere Täuschung gerathen, die er vielleicht Wissen, Erkennen, Natur betitelt. Zerstört aber bloßer Vorwitz, freche Neugier oder höhnender Spott alle diese Netze und körperlichen Träume, in welchen Schönheit und Anmuth gefangen liegen, so nenne ich das einen gottlosen Witz, wenn es überall einen solchen geben kann. Heinrich war still und in sich gekehrt. Du magst wohl Recht haben, sagte er nach einer Pause. Alles, was unser Leben schön machen soll, beruht auf einer Schonung, daß wir die liebliche Dämmerung, vermöge welcher alles Edle in sanfter Befriedigung schwebt, nicht zu grell erleuchten. Tod und Verwesung, Vernichtung und Vergehen sind nicht wahrer, als das geistdurchdrungene, räthselhafte Leben. Zerquetsche die leuchtende, süßduftende Blume, und der Schleim in deiner Hand ist weder Blume noch Natur. Aus der göttlichen Schlafbetäubung, in welche Natur und Dasein uns einwiegen, aus diesem Poesieschlummer sollen wir nicht erwachen wollen, im Wahn, jenseit die Wahrheit zu finden. Fällt dir das schöne Wort nicht ein? sagte sie: Und wie der Mensch nur sagen kann: "Hier bin ich", Sehr wahr! rief Heinrich. Selbst der ver- zu lieb, aus dieser Täuschung herauszureißen, die uns die Erscheinung und das verhüllte Innere bietet. Auch der Forscher wird aus der Täuschung der Schönheit nur in eine andere Täuschung gerathen, die er vielleicht Wissen, Erkennen, Natur betitelt. Zerstört aber bloßer Vorwitz, freche Neugier oder höhnender Spott alle diese Netze und körperlichen Träume, in welchen Schönheit und Anmuth gefangen liegen, so nenne ich das einen gottlosen Witz, wenn es überall einen solchen geben kann. Heinrich war still und in sich gekehrt. Du magst wohl Recht haben, sagte er nach einer Pause. Alles, was unser Leben schön machen soll, beruht auf einer Schonung, daß wir die liebliche Dämmerung, vermöge welcher alles Edle in sanfter Befriedigung schwebt, nicht zu grell erleuchten. Tod und Verwesung, Vernichtung und Vergehen sind nicht wahrer, als das geistdurchdrungene, räthselhafte Leben. Zerquetsche die leuchtende, süßduftende Blume, und der Schleim in deiner Hand ist weder Blume noch Natur. Aus der göttlichen Schlafbetäubung, in welche Natur und Dasein uns einwiegen, aus diesem Poesieschlummer sollen wir nicht erwachen wollen, im Wahn, jenseit die Wahrheit zu finden. Fällt dir das schöne Wort nicht ein? sagte sie: Und wie der Mensch nur sagen kann: „Hier bin ich“, Sehr wahr! rief Heinrich. Selbst der ver- <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0057"/> zu lieb, aus dieser Täuschung herauszureißen, die uns die Erscheinung und das verhüllte Innere bietet. Auch der Forscher wird aus der Täuschung der Schönheit nur in eine andere Täuschung gerathen, die er vielleicht Wissen, Erkennen, Natur betitelt. Zerstört aber bloßer Vorwitz, freche Neugier oder höhnender Spott alle diese Netze und körperlichen Träume, in welchen Schönheit und Anmuth gefangen liegen, so nenne ich das einen gottlosen Witz, wenn es überall einen solchen geben kann.</p><lb/> <p>Heinrich war still und in sich gekehrt. Du magst wohl Recht haben, sagte er nach einer Pause. Alles, was unser Leben schön machen soll, beruht auf einer Schonung, daß wir die liebliche Dämmerung, vermöge welcher alles Edle in sanfter Befriedigung schwebt, nicht zu grell erleuchten. Tod und Verwesung, Vernichtung und Vergehen sind nicht wahrer, als das geistdurchdrungene, räthselhafte Leben. Zerquetsche die leuchtende, süßduftende Blume, und der Schleim in deiner Hand ist weder Blume noch Natur. Aus der göttlichen Schlafbetäubung, in welche Natur und Dasein uns einwiegen, aus diesem Poesieschlummer sollen wir nicht erwachen wollen, im Wahn, jenseit die Wahrheit zu finden.</p><lb/> <p>Fällt dir das schöne Wort nicht ein? sagte sie:</p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Und wie der Mensch nur sagen kann: „Hier bin ich“,<lb/> Daß Freunde seiner schonend sich erfreun! —</hi> </p> <p>Sehr wahr! rief Heinrich. Selbst der ver-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0057]
zu lieb, aus dieser Täuschung herauszureißen, die uns die Erscheinung und das verhüllte Innere bietet. Auch der Forscher wird aus der Täuschung der Schönheit nur in eine andere Täuschung gerathen, die er vielleicht Wissen, Erkennen, Natur betitelt. Zerstört aber bloßer Vorwitz, freche Neugier oder höhnender Spott alle diese Netze und körperlichen Träume, in welchen Schönheit und Anmuth gefangen liegen, so nenne ich das einen gottlosen Witz, wenn es überall einen solchen geben kann.
Heinrich war still und in sich gekehrt. Du magst wohl Recht haben, sagte er nach einer Pause. Alles, was unser Leben schön machen soll, beruht auf einer Schonung, daß wir die liebliche Dämmerung, vermöge welcher alles Edle in sanfter Befriedigung schwebt, nicht zu grell erleuchten. Tod und Verwesung, Vernichtung und Vergehen sind nicht wahrer, als das geistdurchdrungene, räthselhafte Leben. Zerquetsche die leuchtende, süßduftende Blume, und der Schleim in deiner Hand ist weder Blume noch Natur. Aus der göttlichen Schlafbetäubung, in welche Natur und Dasein uns einwiegen, aus diesem Poesieschlummer sollen wir nicht erwachen wollen, im Wahn, jenseit die Wahrheit zu finden.
Fällt dir das schöne Wort nicht ein? sagte sie:
Und wie der Mensch nur sagen kann: „Hier bin ich“,
Daß Freunde seiner schonend sich erfreun! —
Sehr wahr! rief Heinrich. Selbst der ver-
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