Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.doch überzeugt, daß alles dies unsrer wahren Natur fremd und widerwärtig sei. Die Träume sind auch sehr verschiedener Art. Wenn manche lichte an Offenbarung grenzen mögen, so erzeugen sich wohl andere aus Verstimmung des Magens oder anderer Organe. Denn diese wundersam complicirte Mischung unsers Wesens von Materie und Geist, von Thier und Engel, läßt in allen Functionen so unendlich verschiedene Nuancen zu, daß über dergleichen sich am wenigsten etwas Allgemeines sagen läßt. O, das Allgemeine! rief sie aus, die Maximen, die Grundregeln und wie das Zeug alles heißt: ich kann nicht aussprechen, wie Alles der Art mir immer zuwider und unverständlich gewesen ist. In der Liebe wird uns jene Ahndung recht deutlich, die schon unsre Kindheit erleuchtet, daß das Individuelle, das Einzige, das Wesen, das Rechte, das Poetische und Wahre sei. Der Alles allgemein machende Philosoph kann für Alles eine Regel finden, er kann Alles seinem sogenannten System einfügen, er zweifelt niemals, und seine Unfähigkeit, irgend etwas wahrhaft zu erleben, das ist eben jene Sicherheit, auf welche er pocht, jene Zweifelsunfähigkeit, die ihn so stolz macht. Der rechte Gedanke muß auch ein erlebter sein, die wahre Idee sich lebendig aus vielen Gedanken entwickeln und, plötzlich ins Sein getreten, rückstrahlend wieder tausend halb geborne Gedanken erleuchten und beseelen. -- Aber ich erzähle dir da meine Träume, und doch doch überzeugt, daß alles dies unsrer wahren Natur fremd und widerwärtig sei. Die Träume sind auch sehr verschiedener Art. Wenn manche lichte an Offenbarung grenzen mögen, so erzeugen sich wohl andere aus Verstimmung des Magens oder anderer Organe. Denn diese wundersam complicirte Mischung unsers Wesens von Materie und Geist, von Thier und Engel, läßt in allen Functionen so unendlich verschiedene Nuancen zu, daß über dergleichen sich am wenigsten etwas Allgemeines sagen läßt. O, das Allgemeine! rief sie aus, die Maximen, die Grundregeln und wie das Zeug alles heißt: ich kann nicht aussprechen, wie Alles der Art mir immer zuwider und unverständlich gewesen ist. In der Liebe wird uns jene Ahndung recht deutlich, die schon unsre Kindheit erleuchtet, daß das Individuelle, das Einzige, das Wesen, das Rechte, das Poetische und Wahre sei. Der Alles allgemein machende Philosoph kann für Alles eine Regel finden, er kann Alles seinem sogenannten System einfügen, er zweifelt niemals, und seine Unfähigkeit, irgend etwas wahrhaft zu erleben, das ist eben jene Sicherheit, auf welche er pocht, jene Zweifelsunfähigkeit, die ihn so stolz macht. Der rechte Gedanke muß auch ein erlebter sein, die wahre Idee sich lebendig aus vielen Gedanken entwickeln und, plötzlich ins Sein getreten, rückstrahlend wieder tausend halb geborne Gedanken erleuchten und beseelen. — Aber ich erzähle dir da meine Träume, und doch <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0045"/> doch überzeugt, daß alles dies unsrer wahren Natur fremd und widerwärtig sei. Die Träume sind auch sehr verschiedener Art. Wenn manche lichte an Offenbarung grenzen mögen, so erzeugen sich wohl andere aus Verstimmung des Magens oder anderer Organe. Denn diese wundersam complicirte Mischung unsers Wesens von Materie und Geist, von Thier und Engel, läßt in allen Functionen so unendlich verschiedene Nuancen zu, daß über dergleichen sich am wenigsten etwas Allgemeines sagen läßt.</p><lb/> <p>O, das Allgemeine! rief sie aus, die Maximen, die Grundregeln und wie das Zeug alles heißt: ich kann nicht aussprechen, wie Alles der Art mir immer zuwider und unverständlich gewesen ist. In der Liebe wird uns jene Ahndung recht deutlich, die schon unsre Kindheit erleuchtet, daß das Individuelle, das Einzige, das Wesen, das Rechte, das Poetische und Wahre sei. Der Alles allgemein machende Philosoph kann für Alles eine Regel finden, er kann Alles seinem sogenannten System einfügen, er zweifelt niemals, und seine Unfähigkeit, irgend etwas wahrhaft zu erleben, das ist eben jene Sicherheit, auf welche er pocht, jene Zweifelsunfähigkeit, die ihn so stolz macht. Der rechte Gedanke muß auch ein erlebter sein, die wahre Idee sich lebendig aus vielen Gedanken entwickeln und, plötzlich ins Sein getreten, rückstrahlend wieder tausend halb geborne Gedanken erleuchten und beseelen. — Aber ich erzähle dir da meine Träume, und doch<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0045]
doch überzeugt, daß alles dies unsrer wahren Natur fremd und widerwärtig sei. Die Träume sind auch sehr verschiedener Art. Wenn manche lichte an Offenbarung grenzen mögen, so erzeugen sich wohl andere aus Verstimmung des Magens oder anderer Organe. Denn diese wundersam complicirte Mischung unsers Wesens von Materie und Geist, von Thier und Engel, läßt in allen Functionen so unendlich verschiedene Nuancen zu, daß über dergleichen sich am wenigsten etwas Allgemeines sagen läßt.
O, das Allgemeine! rief sie aus, die Maximen, die Grundregeln und wie das Zeug alles heißt: ich kann nicht aussprechen, wie Alles der Art mir immer zuwider und unverständlich gewesen ist. In der Liebe wird uns jene Ahndung recht deutlich, die schon unsre Kindheit erleuchtet, daß das Individuelle, das Einzige, das Wesen, das Rechte, das Poetische und Wahre sei. Der Alles allgemein machende Philosoph kann für Alles eine Regel finden, er kann Alles seinem sogenannten System einfügen, er zweifelt niemals, und seine Unfähigkeit, irgend etwas wahrhaft zu erleben, das ist eben jene Sicherheit, auf welche er pocht, jene Zweifelsunfähigkeit, die ihn so stolz macht. Der rechte Gedanke muß auch ein erlebter sein, die wahre Idee sich lebendig aus vielen Gedanken entwickeln und, plötzlich ins Sein getreten, rückstrahlend wieder tausend halb geborne Gedanken erleuchten und beseelen. — Aber ich erzähle dir da meine Träume, und doch
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Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/45>, abgerufen am 16.02.2025. |