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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.

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Zweite Abtheilung.
fallen ist, sondern gefallen hat, strenge zu kriti-
siren; wenigstens hat das Publikum diese Ge-
sinnung.

So wie ich, fiel Auguste ein; denn wahr-
lich, die Willkührlichkeiten, die Sie neulich in
Ihrem Kindermährchen verbunden haben, waren
viel willkührlicher.

Meine Herrschaft, fing Lothar an, zeigt im-
mer traurigere Aussichten, und alles neigt sich
mehr und mehr, um die dramatische Verwir-
rung recht zu verschlingen, zu einem Bürger-
kriege: statt ruhiger Gespräche werde ich nur
Streit gewahr, welcher die Aufklärung mehr
hindert als befördert, und ich verfüge daher, um
wenigstens einen Waffenstillstand hervor zu brin-
gen, daß Rosalia uns gütig die Sonate vortra-
gen möge, die sie heut Morgen einübte, damit
die orphische Kunst die Leidenschaften zähme.

Rosalie gehorchte lachend dem Befehl, in-
dem sie nur sagte: unser Herrscher wird ein
Despot, der seine Regierung auch über uns
Zuhörerinnen erstreckt, deren Gehorsam ihm nicht
einbedungen war.

Als sie gespielt hatte, sagte sie: die Musik
ist in unsern Tagen so allgemein verbreitet, die
Kennerschaft und Virtuosität so wenig selten,
daß man jetzt ein Mädchen fast beleidigt, wenn
man frägt: ob sie musikalisch sey; das war,
wie ich mir habe sagen lassen, noch vor zwanzig
oder dreißig Jahren ganz anders.

Zweite Abtheilung.
fallen iſt, ſondern gefallen hat, ſtrenge zu kriti-
ſiren; wenigſtens hat das Publikum dieſe Ge-
ſinnung.

So wie ich, fiel Auguſte ein; denn wahr-
lich, die Willkuͤhrlichkeiten, die Sie neulich in
Ihrem Kindermaͤhrchen verbunden haben, waren
viel willkuͤhrlicher.

Meine Herrſchaft, fing Lothar an, zeigt im-
mer traurigere Ausſichten, und alles neigt ſich
mehr und mehr, um die dramatiſche Verwir-
rung recht zu verſchlingen, zu einem Buͤrger-
kriege: ſtatt ruhiger Geſpraͤche werde ich nur
Streit gewahr, welcher die Aufklaͤrung mehr
hindert als befoͤrdert, und ich verfuͤge daher, um
wenigſtens einen Waffenſtillſtand hervor zu brin-
gen, daß Roſalia uns guͤtig die Sonate vortra-
gen moͤge, die ſie heut Morgen einuͤbte, damit
die orphiſche Kunſt die Leidenſchaften zaͤhme.

Roſalie gehorchte lachend dem Befehl, in-
dem ſie nur ſagte: unſer Herrſcher wird ein
Despot, der ſeine Regierung auch uͤber uns
Zuhoͤrerinnen erſtreckt, deren Gehorſam ihm nicht
einbedungen war.

Als ſie geſpielt hatte, ſagte ſie: die Muſik
iſt in unſern Tagen ſo allgemein verbreitet, die
Kennerſchaft und Virtuoſitaͤt ſo wenig ſelten,
daß man jetzt ein Maͤdchen faſt beleidigt, wenn
man fraͤgt: ob ſie muſikaliſch ſey; das war,
wie ich mir habe ſagen laſſen, noch vor zwanzig
oder dreißig Jahren ganz anders.

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[227/0237] Zweite Abtheilung. fallen iſt, ſondern gefallen hat, ſtrenge zu kriti- ſiren; wenigſtens hat das Publikum dieſe Ge- ſinnung. So wie ich, fiel Auguſte ein; denn wahr- lich, die Willkuͤhrlichkeiten, die Sie neulich in Ihrem Kindermaͤhrchen verbunden haben, waren viel willkuͤhrlicher. Meine Herrſchaft, fing Lothar an, zeigt im- mer traurigere Ausſichten, und alles neigt ſich mehr und mehr, um die dramatiſche Verwir- rung recht zu verſchlingen, zu einem Buͤrger- kriege: ſtatt ruhiger Geſpraͤche werde ich nur Streit gewahr, welcher die Aufklaͤrung mehr hindert als befoͤrdert, und ich verfuͤge daher, um wenigſtens einen Waffenſtillſtand hervor zu brin- gen, daß Roſalia uns guͤtig die Sonate vortra- gen moͤge, die ſie heut Morgen einuͤbte, damit die orphiſche Kunſt die Leidenſchaften zaͤhme. Roſalie gehorchte lachend dem Befehl, in- dem ſie nur ſagte: unſer Herrſcher wird ein Despot, der ſeine Regierung auch uͤber uns Zuhoͤrerinnen erſtreckt, deren Gehorſam ihm nicht einbedungen war. Als ſie geſpielt hatte, ſagte ſie: die Muſik iſt in unſern Tagen ſo allgemein verbreitet, die Kennerſchaft und Virtuoſitaͤt ſo wenig ſelten, daß man jetzt ein Maͤdchen faſt beleidigt, wenn man fraͤgt: ob ſie muſikaliſch ſey; das war, wie ich mir habe ſagen laſſen, noch vor zwanzig oder dreißig Jahren ganz anders.

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/237>, abgerufen am 04.05.2024.