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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.

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Zweite Abtheilung.
zu hinken, zeitlebens auf keine höhere Ehre An-
sprüche machen zu dürfen! Nicht wahr, es ist gar
zu erbärmlich? Denn Reichthümer besitze ich nicht,
und wenn ich sie auch besäße, was sollte ich mit
ihnen wohl anfangen? Kein Mädchen wird so
wahnwitzig seyn, sich in mich zu verlieben; Wohl-
wollen, Freundschaft, Ehre, Ruhm, alles ist für
diese arme verkrüppelte widerwärtige Gestalt gar
nicht in der Welt. Was ist denn also das Leben
für mich? Nichts als der große Fettschweif des
Indianischen Schaafs, es ist mir nur zur Last:
ich bin nicht fröhlicher, als wenn ich vergesse, wer
ich bin, ich diene dazu, andre zum Lachen zu brin-
gen, und zwinge mich selbst zum Lachen, ich bin
eine Medizin für verdorbene Mägen, ein Verdau-
ungsmittel, die Hunde selbst sehn mich von der
Seite an, und ich habe es noch nie dahin ge-
bracht, daß mich einer geliebt hätte. Aus welcher
Ursache, meint Ihr nun wohl, sollte ich das Le-
ben lieben? Und was ist denn das Leben selbst?
Eine beständige Furcht vor dem Tode, wenn man
an ihn denkt, und ein leerer, nüchterner, genußlo-
ser Rausch, wenn man ihn vergißt, denn man
verschwendet dann einen Tag nach dem andern,
und vergißt daruber, daß die Gegenwart so klein
ist, und daß jeder Augenblick vom nächstfolgenden
verschlungen wird. Jeder Mensch wünscht alt zu
werden, und wünscht damit nichts anders, als mit
tausend Gebrechen, mit tausend Schmerzen in
Bekanntschaft zu treten. Da schleichen sie denn
ohne Zähne und ohne Wünsche, mit leerem zit-
ternden
Zweite Abtheilung.
zu hinken, zeitlebens auf keine hoͤhere Ehre An-
ſpruͤche machen zu duͤrfen! Nicht wahr, es iſt gar
zu erbaͤrmlich? Denn Reichthuͤmer beſitze ich nicht,
und wenn ich ſie auch beſaͤße, was ſollte ich mit
ihnen wohl anfangen? Kein Maͤdchen wird ſo
wahnwitzig ſeyn, ſich in mich zu verlieben; Wohl-
wollen, Freundſchaft, Ehre, Ruhm, alles iſt fuͤr
dieſe arme verkruͤppelte widerwaͤrtige Geſtalt gar
nicht in der Welt. Was iſt denn alſo das Leben
fuͤr mich? Nichts als der große Fettſchweif des
Indianiſchen Schaafs, es iſt mir nur zur Laſt:
ich bin nicht froͤhlicher, als wenn ich vergeſſe, wer
ich bin, ich diene dazu, andre zum Lachen zu brin-
gen, und zwinge mich ſelbſt zum Lachen, ich bin
eine Medizin fuͤr verdorbene Maͤgen, ein Verdau-
ungsmittel, die Hunde ſelbſt ſehn mich von der
Seite an, und ich habe es noch nie dahin ge-
bracht, daß mich einer geliebt haͤtte. Aus welcher
Urſache, meint Ihr nun wohl, ſollte ich das Le-
ben lieben? Und was iſt denn das Leben ſelbſt?
Eine beſtaͤndige Furcht vor dem Tode, wenn man
an ihn denkt, und ein leerer, nuͤchterner, genußlo-
ſer Rauſch, wenn man ihn vergißt, denn man
verſchwendet dann einen Tag nach dem andern,
und vergißt daruber, daß die Gegenwart ſo klein
iſt, und daß jeder Augenblick vom naͤchſtfolgenden
verſchlungen wird. Jeder Menſch wuͤnſcht alt zu
werden, und wuͤnſcht damit nichts anders, als mit
tauſend Gebrechen, mit tauſend Schmerzen in
Bekanntſchaft zu treten. Da ſchleichen ſie denn
ohne Zaͤhne und ohne Wuͤnſche, mit leerem zit-
ternden
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[32/0041] Zweite Abtheilung. zu hinken, zeitlebens auf keine hoͤhere Ehre An- ſpruͤche machen zu duͤrfen! Nicht wahr, es iſt gar zu erbaͤrmlich? Denn Reichthuͤmer beſitze ich nicht, und wenn ich ſie auch beſaͤße, was ſollte ich mit ihnen wohl anfangen? Kein Maͤdchen wird ſo wahnwitzig ſeyn, ſich in mich zu verlieben; Wohl- wollen, Freundſchaft, Ehre, Ruhm, alles iſt fuͤr dieſe arme verkruͤppelte widerwaͤrtige Geſtalt gar nicht in der Welt. Was iſt denn alſo das Leben fuͤr mich? Nichts als der große Fettſchweif des Indianiſchen Schaafs, es iſt mir nur zur Laſt: ich bin nicht froͤhlicher, als wenn ich vergeſſe, wer ich bin, ich diene dazu, andre zum Lachen zu brin- gen, und zwinge mich ſelbſt zum Lachen, ich bin eine Medizin fuͤr verdorbene Maͤgen, ein Verdau- ungsmittel, die Hunde ſelbſt ſehn mich von der Seite an, und ich habe es noch nie dahin ge- bracht, daß mich einer geliebt haͤtte. Aus welcher Urſache, meint Ihr nun wohl, ſollte ich das Le- ben lieben? Und was iſt denn das Leben ſelbſt? Eine beſtaͤndige Furcht vor dem Tode, wenn man an ihn denkt, und ein leerer, nuͤchterner, genußlo- ſer Rauſch, wenn man ihn vergißt, denn man verſchwendet dann einen Tag nach dem andern, und vergißt daruber, daß die Gegenwart ſo klein iſt, und daß jeder Augenblick vom naͤchſtfolgenden verſchlungen wird. Jeder Menſch wuͤnſcht alt zu werden, und wuͤnſcht damit nichts anders, als mit tauſend Gebrechen, mit tauſend Schmerzen in Bekanntſchaft zu treten. Da ſchleichen ſie denn ohne Zaͤhne und ohne Wuͤnſche, mit leerem zit- ternden

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/41>, abgerufen am 22.11.2024.