Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.Zweite Abtheilung. Eid in drei statt in fünf Akten wäre geschriebenworden (so wie er wohl im Spanischen Ori- ginal war, welches ich nie gesehn habe), und wenn dieses Beispiel sogleich Autorität genug erhalten hätte, um nachgeahmt zu werden. Im ersten Entwurf, fuhr Lothar fort, zer- fällt dem Dichter, zumal demjenigen, der eine sogenannte regelmäßige Tragödie schreiben will, die Materie gewiß in vier Theile; die nächste, natürlichste, aber auch unkünstlichste Anordnung eines Schauspiels. Die Begebenheit kündigt sich an, verwirrt sich, erreicht ihr höchstes Interesse und wird beschlossen. In dieser Anordnung bleibt aber unser Gemüth völlig unbefriedigt, weil wir fühlen, daß sie keine ist, sondern daß Willkür und Anarchie in solchem Werke herrschen, oder jene Bequemlichkeit, die mit der Kunst ganz un- vereinbar ist. Frühere Spanische Theaterstücke waren so abgefaßt, und Cervantes sagt, die Kunst sey damals auf allen Vieren gegangen. Es ist sehr wahr, fügte Ernst hinzu, daß in vielen dieser regelmäßigen einfachern Werke der vierte Akt nur eine Vorbereitung zum fünf- ten ist, oft scheint auch mit dem vierten Akte ein neues Schauspiel zu beginnen, weil das Hauptinteresse mit dem dritten beschlossen wurde. Alfieri klagt in den Bemerkungen über seine Tra- gödien mehr als einmal, wie schwer ihm der vierte Akt geworden, und wie unnütz er sey. So ist in unserer vortreflichen Iphigenia nach Zweite Abtheilung. Eid in drei ſtatt in fuͤnf Akten waͤre geſchriebenworden (ſo wie er wohl im Spaniſchen Ori- ginal war, welches ich nie geſehn habe), und wenn dieſes Beiſpiel ſogleich Autoritaͤt genug erhalten haͤtte, um nachgeahmt zu werden. Im erſten Entwurf, fuhr Lothar fort, zer- faͤllt dem Dichter, zumal demjenigen, der eine ſogenannte regelmaͤßige Tragoͤdie ſchreiben will, die Materie gewiß in vier Theile; die naͤchſte, natuͤrlichſte, aber auch unkuͤnſtlichſte Anordnung eines Schauſpiels. Die Begebenheit kuͤndigt ſich an, verwirrt ſich, erreicht ihr hoͤchſtes Intereſſe und wird beſchloſſen. In dieſer Anordnung bleibt aber unſer Gemuͤth voͤllig unbefriedigt, weil wir fuͤhlen, daß ſie keine iſt, ſondern daß Willkuͤr und Anarchie in ſolchem Werke herrſchen, oder jene Bequemlichkeit, die mit der Kunſt ganz un- vereinbar iſt. Fruͤhere Spaniſche Theaterſtuͤcke waren ſo abgefaßt, und Cervantes ſagt, die Kunſt ſey damals auf allen Vieren gegangen. Es iſt ſehr wahr, fuͤgte Ernſt hinzu, daß in vielen dieſer regelmaͤßigen einfachern Werke der vierte Akt nur eine Vorbereitung zum fuͤnf- ten iſt, oft ſcheint auch mit dem vierten Akte ein neues Schauſpiel zu beginnen, weil das Hauptintereſſe mit dem dritten beſchloſſen wurde. Alfieri klagt in den Bemerkungen uͤber ſeine Tra- goͤdien mehr als einmal, wie ſchwer ihm der vierte Akt geworden, und wie unnuͤtz er ſey. So iſt in unſerer vortreflichen Iphigenia nach <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <sp who="#WINFRED"> <p><pb facs="#f0148" n="139"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> Eid in drei ſtatt in fuͤnf Akten waͤre geſchrieben<lb/> worden (ſo wie er wohl im Spaniſchen Ori-<lb/> ginal war, welches ich nie geſehn habe), und<lb/> wenn dieſes Beiſpiel ſogleich Autoritaͤt genug<lb/> erhalten haͤtte, um nachgeahmt zu werden.</p><lb/> <p>Im erſten Entwurf, fuhr Lothar fort, zer-<lb/> faͤllt dem Dichter, zumal demjenigen, der eine<lb/> ſogenannte regelmaͤßige Tragoͤdie ſchreiben will,<lb/> die Materie gewiß in vier Theile; die naͤchſte,<lb/> natuͤrlichſte, aber auch unkuͤnſtlichſte Anordnung<lb/> eines Schauſpiels. Die Begebenheit kuͤndigt ſich<lb/> an, verwirrt ſich, erreicht ihr hoͤchſtes Intereſſe<lb/> und wird beſchloſſen. In dieſer Anordnung bleibt<lb/> aber unſer Gemuͤth voͤllig unbefriedigt, weil wir<lb/> fuͤhlen, daß ſie keine iſt, ſondern daß Willkuͤr<lb/> und Anarchie in ſolchem Werke herrſchen, oder<lb/> jene Bequemlichkeit, die mit der Kunſt ganz un-<lb/> vereinbar iſt. Fruͤhere Spaniſche Theaterſtuͤcke<lb/> waren ſo abgefaßt, und Cervantes ſagt, die<lb/> Kunſt ſey damals auf allen Vieren gegangen.</p><lb/> <p>Es iſt ſehr wahr, fuͤgte Ernſt hinzu, daß<lb/> in vielen dieſer regelmaͤßigen einfachern Werke<lb/> der vierte Akt nur eine Vorbereitung zum fuͤnf-<lb/> ten iſt, oft ſcheint auch mit dem vierten Akte<lb/> ein neues Schauſpiel zu beginnen, weil das<lb/> Hauptintereſſe mit dem dritten beſchloſſen wurde.<lb/> Alfieri klagt in den Bemerkungen uͤber ſeine Tra-<lb/> goͤdien mehr als einmal, wie ſchwer ihm der<lb/> vierte Akt geworden, und wie unnuͤtz er ſey.<lb/> So iſt in unſerer vortreflichen Iphigenia nach<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [139/0148]
Zweite Abtheilung.
Eid in drei ſtatt in fuͤnf Akten waͤre geſchrieben
worden (ſo wie er wohl im Spaniſchen Ori-
ginal war, welches ich nie geſehn habe), und
wenn dieſes Beiſpiel ſogleich Autoritaͤt genug
erhalten haͤtte, um nachgeahmt zu werden.
Im erſten Entwurf, fuhr Lothar fort, zer-
faͤllt dem Dichter, zumal demjenigen, der eine
ſogenannte regelmaͤßige Tragoͤdie ſchreiben will,
die Materie gewiß in vier Theile; die naͤchſte,
natuͤrlichſte, aber auch unkuͤnſtlichſte Anordnung
eines Schauſpiels. Die Begebenheit kuͤndigt ſich
an, verwirrt ſich, erreicht ihr hoͤchſtes Intereſſe
und wird beſchloſſen. In dieſer Anordnung bleibt
aber unſer Gemuͤth voͤllig unbefriedigt, weil wir
fuͤhlen, daß ſie keine iſt, ſondern daß Willkuͤr
und Anarchie in ſolchem Werke herrſchen, oder
jene Bequemlichkeit, die mit der Kunſt ganz un-
vereinbar iſt. Fruͤhere Spaniſche Theaterſtuͤcke
waren ſo abgefaßt, und Cervantes ſagt, die
Kunſt ſey damals auf allen Vieren gegangen.
Es iſt ſehr wahr, fuͤgte Ernſt hinzu, daß
in vielen dieſer regelmaͤßigen einfachern Werke
der vierte Akt nur eine Vorbereitung zum fuͤnf-
ten iſt, oft ſcheint auch mit dem vierten Akte
ein neues Schauſpiel zu beginnen, weil das
Hauptintereſſe mit dem dritten beſchloſſen wurde.
Alfieri klagt in den Bemerkungen uͤber ſeine Tra-
goͤdien mehr als einmal, wie ſchwer ihm der
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So iſt in unſerer vortreflichen Iphigenia nach
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