Die Großmutter sitzt und liest. Ist heute gar ein schöner Tag, An dem man gern Gott dienen mag, Das Wetter ist hell, scheint die Sonne herein, Da muß das Herz andächtig seyn. Ich höre von ferne das Geläute, Es ist ein lieblicher Sonntag heute, Vor dem Fenster die Bäume sich rauschend neigen, Als wollten sie sich gottsfürchtig bezeigen. Ich wohn allhier vom Dorf abseitig, Sonst ging ich gern zur Kirche zeitig, Doch ich bin alt, dazu krank gewesen, Da thu ich im lieben Gesangbuch lesen, Der Herr muß damit zufrieden sich geben, Eine arme Frau kann nicht mehr thun eben. -- (gähnt und macht das Buch zu.) Ach Gott! so geht es in der Welt! Ja, ja, es ist recht schlimm bestellt. Meine Tochter Elsbeth backt heute Kuchen, Da wird mich wohl klein Rothkäppchen besuchen. Es geht die Thür oder es ist der Wind, Ich glaube da kommt das kleine Kind.
Rothkaͤppchen.
Erſte Scene.
(Stube.)
Die Großmutter ſitzt und lieſt. Iſt heute gar ein ſchoͤner Tag, An dem man gern Gott dienen mag, Das Wetter iſt hell, ſcheint die Sonne herein, Da muß das Herz andaͤchtig ſeyn. Ich hoͤre von ferne das Gelaͤute, Es iſt ein lieblicher Sonntag heute, Vor dem Fenſter die Baͤume ſich rauſchend neigen, Als wollten ſie ſich gottsfuͤrchtig bezeigen. Ich wohn allhier vom Dorf abſeitig, Sonſt ging ich gern zur Kirche zeitig, Doch ich bin alt, dazu krank geweſen, Da thu ich im lieben Geſangbuch leſen, Der Herr muß damit zufrieden ſich geben, Eine arme Frau kann nicht mehr thun eben. — (gaͤhnt und macht das Buch zu.) Ach Gott! ſo geht es in der Welt! Ja, ja, es iſt recht ſchlimm beſtellt. Meine Tochter Elsbeth backt heute Kuchen, Da wird mich wohl klein Rothkaͤppchen beſuchen. Es geht die Thuͤr oder es iſt der Wind, Ich glaube da kommt das kleine Kind.
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Rothkaͤppchen.
Erſte Scene.
(Stube.)
Die Großmutter ſitzt und lieſt.
Iſt heute gar ein ſchoͤner Tag,
An dem man gern Gott dienen mag,
Das Wetter iſt hell, ſcheint die Sonne herein,
Da muß das Herz andaͤchtig ſeyn.
Ich hoͤre von ferne das Gelaͤute,
Es iſt ein lieblicher Sonntag heute,
Vor dem Fenſter die Baͤume ſich rauſchend neigen,
Als wollten ſie ſich gottsfuͤrchtig bezeigen.
Ich wohn allhier vom Dorf abſeitig,
Sonſt ging ich gern zur Kirche zeitig,
Doch ich bin alt, dazu krank geweſen,
Da thu ich im lieben Geſangbuch leſen,
Der Herr muß damit zufrieden ſich geben,
Eine arme Frau kann nicht mehr thun eben. —
(gaͤhnt und macht das Buch zu.)
Ach Gott! ſo geht es in der Welt!
Ja, ja, es iſt recht ſchlimm beſtellt.
Meine Tochter Elsbeth backt heute Kuchen,
Da wird mich wohl klein Rothkaͤppchen beſuchen.
Es geht die Thuͤr oder es iſt der Wind,
Ich glaube da kommt das kleine Kind.
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/490>, abgerufen am 16.07.2024.
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