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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
enthüllen. Da kam über den Markt eine jugend-
liche Gestalt, in Schwarz, schlank und edel, die
Augen sittsam vor sich hin geheftet, unbefangen
schwebte sie die Erhöhung hinauf mit lieblicher An-
muth, das seidene Gewand legte sich um den schön-
sten Körper und wiegte sich wie in Musik um die
bewegten Glieder; jetzt wollte sie den letzten Schritt
thun, und von ohngefähr erhob sie das Auge und
traf mit dem blauesten Strale in seinen Blick. Er
ward wie von einem Blitz durchdrungen. Sie strau-
chelte, und so schnell er auch hinzu sprang, konnte
er doch nicht verhindern, daß sie nicht kurze Zeit
in der reizendsten Stellung knieend vor seinen Fü-
ßen lag. Er hob sie auf, sie sah ihn nicht an,
sondern war ganz Röthe, antwortete auch nicht
auf seine Frage, ob sie sich beschädiget habe. Er
folgte ihr in die Kirche und sah nur das Bildniß,
wie sie vor ihm gekniet, und der schönste Busen
ihm entgegen gewogt. Am folgenden Tage besuchte
er die Schwelle des Tempels wieder; die Stätte
war ihm geweiht. Er hatte abreisen wollen, seine
Freunde erwarteten ihn ungeduldig in seiner Hei-
math; aber von nun an war hier sein Vaterland,
sein Herz war umgewendet. Er sah sie öfter, sie
vermied ihn nicht, doch waren es nur einzelne und
gestohlene Augenblicke; denn ihre reiche Familie
bewachte sie genau, noch mehr ein angesehener ei-
fersüchtiger Bräutigam. Sie gestanden sich ihre
Liebe, wußten aber keinen Rath in ihrer Lage;
denn er war fremd, und konnte seiner Geliebten
kein so großes Glück anbieten, als sie zu erwarten

berech-

Erſte Abtheilung.
enthuͤllen. Da kam uͤber den Markt eine jugend-
liche Geſtalt, in Schwarz, ſchlank und edel, die
Augen ſittſam vor ſich hin geheftet, unbefangen
ſchwebte ſie die Erhoͤhung hinauf mit lieblicher An-
muth, das ſeidene Gewand legte ſich um den ſchoͤn-
ſten Koͤrper und wiegte ſich wie in Muſik um die
bewegten Glieder; jetzt wollte ſie den letzten Schritt
thun, und von ohngefaͤhr erhob ſie das Auge und
traf mit dem blaueſten Strale in ſeinen Blick. Er
ward wie von einem Blitz durchdrungen. Sie ſtrau-
chelte, und ſo ſchnell er auch hinzu ſprang, konnte
er doch nicht verhindern, daß ſie nicht kurze Zeit
in der reizendſten Stellung knieend vor ſeinen Fuͤ-
ßen lag. Er hob ſie auf, ſie ſah ihn nicht an,
ſondern war ganz Roͤthe, antwortete auch nicht
auf ſeine Frage, ob ſie ſich beſchaͤdiget habe. Er
folgte ihr in die Kirche und ſah nur das Bildniß,
wie ſie vor ihm gekniet, und der ſchoͤnſte Buſen
ihm entgegen gewogt. Am folgenden Tage beſuchte
er die Schwelle des Tempels wieder; die Staͤtte
war ihm geweiht. Er hatte abreiſen wollen, ſeine
Freunde erwarteten ihn ungeduldig in ſeiner Hei-
math; aber von nun an war hier ſein Vaterland,
ſein Herz war umgewendet. Er ſah ſie oͤfter, ſie
vermied ihn nicht, doch waren es nur einzelne und
geſtohlene Augenblicke; denn ihre reiche Familie
bewachte ſie genau, noch mehr ein angeſehener ei-
ferſuͤchtiger Braͤutigam. Sie geſtanden ſich ihre
Liebe, wußten aber keinen Rath in ihrer Lage;
denn er war fremd, und konnte ſeiner Geliebten
kein ſo großes Gluͤck anbieten, als ſie zu erwarten

berech-
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[432/0443] Erſte Abtheilung. enthuͤllen. Da kam uͤber den Markt eine jugend- liche Geſtalt, in Schwarz, ſchlank und edel, die Augen ſittſam vor ſich hin geheftet, unbefangen ſchwebte ſie die Erhoͤhung hinauf mit lieblicher An- muth, das ſeidene Gewand legte ſich um den ſchoͤn- ſten Koͤrper und wiegte ſich wie in Muſik um die bewegten Glieder; jetzt wollte ſie den letzten Schritt thun, und von ohngefaͤhr erhob ſie das Auge und traf mit dem blaueſten Strale in ſeinen Blick. Er ward wie von einem Blitz durchdrungen. Sie ſtrau- chelte, und ſo ſchnell er auch hinzu ſprang, konnte er doch nicht verhindern, daß ſie nicht kurze Zeit in der reizendſten Stellung knieend vor ſeinen Fuͤ- ßen lag. Er hob ſie auf, ſie ſah ihn nicht an, ſondern war ganz Roͤthe, antwortete auch nicht auf ſeine Frage, ob ſie ſich beſchaͤdiget habe. Er folgte ihr in die Kirche und ſah nur das Bildniß, wie ſie vor ihm gekniet, und der ſchoͤnſte Buſen ihm entgegen gewogt. Am folgenden Tage beſuchte er die Schwelle des Tempels wieder; die Staͤtte war ihm geweiht. Er hatte abreiſen wollen, ſeine Freunde erwarteten ihn ungeduldig in ſeiner Hei- math; aber von nun an war hier ſein Vaterland, ſein Herz war umgewendet. Er ſah ſie oͤfter, ſie vermied ihn nicht, doch waren es nur einzelne und geſtohlene Augenblicke; denn ihre reiche Familie bewachte ſie genau, noch mehr ein angeſehener ei- ferſuͤchtiger Braͤutigam. Sie geſtanden ſich ihre Liebe, wußten aber keinen Rath in ihrer Lage; denn er war fremd, und konnte ſeiner Geliebten kein ſo großes Gluͤck anbieten, als ſie zu erwarten berech-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/443>, abgerufen am 25.11.2024.