Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. prekaire Wahrheit verlangt, und erregen dadurchdie Thränenschauer, auf welche sie in ihren Vor- reden so stolz sind. Dieser Thränen (ich muß sie selbst vergießen, gesteh ich) sollten wir uns aber schämen, sie sollten uns gerade am meisten in Zorn gegen den Dichter entzünden, der das Höchste und Theuerste zum Niedrigsten macht, und auf dem Trödelmarkt ausbietet. Nicht wahr, es würde uns alle empören, ein Erbstück eines ge- liebten Vaters, das wir nur unserm kostbarsten Schranke anvertrauen, plötzlich in der schmuzigen Judengasse öffentlich ausstehn zu sehn? Gerade so empören mich jene Dinge, von denen sich un- ser Publikum so oft erhoben und gebessert fühlt, denn eben die unwürdigste Taschenspielerei jener Autoren ist es, an ihr Machwerk die Empfin- dungen zu knüpfen, die uns als Menschen ewig heilig und unverletzlich seyn sollen. Ich verstehe jetzt, sagte Emilie, ihren Zorn Wie könnt ihr Weiber, fuhr Manfred in I. [21]
Erſte Abtheilung. prekaire Wahrheit verlangt, und erregen dadurchdie Thraͤnenſchauer, auf welche ſie in ihren Vor- reden ſo ſtolz ſind. Dieſer Thraͤnen (ich muß ſie ſelbſt vergießen, geſteh ich) ſollten wir uns aber ſchaͤmen, ſie ſollten uns gerade am meiſten in Zorn gegen den Dichter entzuͤnden, der das Hoͤchſte und Theuerſte zum Niedrigſten macht, und auf dem Troͤdelmarkt ausbietet. Nicht wahr, es wuͤrde uns alle empoͤren, ein Erbſtuͤck eines ge- liebten Vaters, das wir nur unſerm koſtbarſten Schranke anvertrauen, ploͤtzlich in der ſchmuzigen Judengaſſe oͤffentlich ausſtehn zu ſehn? Gerade ſo empoͤren mich jene Dinge, von denen ſich un- ſer Publikum ſo oft erhoben und gebeſſert fuͤhlt, denn eben die unwuͤrdigſte Taſchenſpielerei jener Autoren iſt es, an ihr Machwerk die Empfin- dungen zu knuͤpfen, die uns als Menſchen ewig heilig und unverletzlich ſeyn ſollen. Ich verſtehe jetzt, ſagte Emilie, ihren Zorn Wie koͤnnt ihr Weiber, fuhr Manfred in I. [21]
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Erſte Abtheilung.
prekaire Wahrheit verlangt, und erregen dadurch
die Thraͤnenſchauer, auf welche ſie in ihren Vor-
reden ſo ſtolz ſind. Dieſer Thraͤnen (ich muß ſie
ſelbſt vergießen, geſteh ich) ſollten wir uns aber
ſchaͤmen, ſie ſollten uns gerade am meiſten in
Zorn gegen den Dichter entzuͤnden, der das
Hoͤchſte und Theuerſte zum Niedrigſten macht, und
auf dem Troͤdelmarkt ausbietet. Nicht wahr, es
wuͤrde uns alle empoͤren, ein Erbſtuͤck eines ge-
liebten Vaters, das wir nur unſerm koſtbarſten
Schranke anvertrauen, ploͤtzlich in der ſchmuzigen
Judengaſſe oͤffentlich ausſtehn zu ſehn? Gerade
ſo empoͤren mich jene Dinge, von denen ſich un-
ſer Publikum ſo oft erhoben und gebeſſert fuͤhlt,
denn eben die unwuͤrdigſte Taſchenſpielerei jener
Autoren iſt es, an ihr Machwerk die Empfin-
dungen zu knuͤpfen, die uns als Menſchen ewig
heilig und unverletzlich ſeyn ſollen.
Ich verſtehe jetzt, ſagte Emilie, ihren Zorn
etwas mehr, der mir oft genug paradox erſchien,
indem ich ſah, daß Sie ſich einer gewiſſen Ruͤh-
rung nicht erwehren konnten.
Wie koͤnnt ihr Weiber, fuhr Manfred in
ſeinem Eifer fort, es nur dulden, daß man eure
Muͤtterlichkeit, eure Liebe, euer zartes Hingeben,
eure ehelichen Tugenden, eure Keuſchheit, dort
als verzerrte Bilder ſo oͤffentlich an den Pranger
ſtellt? denn das iſt es eigentlich, wie ſehr ſich
alle dieſe Herrn auch die Miene geben wollen,
euch und euren Beruf zu verherrlichen. Und eben
I. [21]
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