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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Liebeszauber.
Zug nach dem obern Corredor schweben: Roderich
als die rothe Alte voran, und ihr nachfolgend Buck-
lichte, dickbauchige Fratzen, ungeheure Perucken,
Tartaglias, Policinells und gespenstische Pierrots,
weibliche Figuren in ausgespannten Reifröcken und
ellenhohen Frisuren, die widerwärtigsten Gestalten,
alle wie aus einem ängstlichen Traum. Sie zogen
gaukelnd und sich drehend und wackelnd, trippelnd
und sich brüstend über den Gang, und verschwan-
den dann in eine der Thüren. Nur wenige der
Zuschauer waren zum Lachen gekommen, so hatte
sie der seltsamste Anblick überrascht. Plötzlich brach
ein gellender Schrei aus den innern Zimmern, und
hervor stürzte in das blutige Abendroth die bleiche
Braut, im weißen kurzen Kleide, um welches Blu-
menranken flatterten, der schöne Busen ganz frei,
die Fülle der Locken in Lüften schwebend. Wie
wahnsinnig, die Augen rollend, das Gesicht ent-
stellt, stürzte sie über die Gallerie, und fand in
ihrer Angst verblindet keine Thür und Treppe,
und gleich darauf, ihr nachrennend, Emil, den blan-
ken türkischen Dolch in hoch erhobener Faust.
Jetzt war sie am Ende des Ganges, sie konnte
nicht weiter, er erreichte sie. Die maskirten Freunde
und die graue Alte waren ihm nach gestürzt. Aber
schon hatte er wüthend ihre Brust durchbohrt, und
den weißen Hals durchschnitten, ihr Blut strömte
im Glanz des Abends. Die Alte hatte sich mit
ihm umfaßt, ihn zurück zu reißen; kämpfend schleu-
derte er sich mit ihr über das Geländer, und beide
fielen zerschmettert zu den Füßen der Verwandten

Liebeszauber.
Zug nach dem obern Corredor ſchweben: Roderich
als die rothe Alte voran, und ihr nachfolgend Buck-
lichte, dickbauchige Fratzen, ungeheure Perucken,
Tartaglias, Policinells und geſpenſtiſche Pierrots,
weibliche Figuren in ausgeſpannten Reifroͤcken und
ellenhohen Friſuren, die widerwaͤrtigſten Geſtalten,
alle wie aus einem aͤngſtlichen Traum. Sie zogen
gaukelnd und ſich drehend und wackelnd, trippelnd
und ſich bruͤſtend uͤber den Gang, und verſchwan-
den dann in eine der Thuͤren. Nur wenige der
Zuſchauer waren zum Lachen gekommen, ſo hatte
ſie der ſeltſamſte Anblick uͤberraſcht. Ploͤtzlich brach
ein gellender Schrei aus den innern Zimmern, und
hervor ſtuͤrzte in das blutige Abendroth die bleiche
Braut, im weißen kurzen Kleide, um welches Blu-
menranken flatterten, der ſchoͤne Buſen ganz frei,
die Fuͤlle der Locken in Luͤften ſchwebend. Wie
wahnſinnig, die Augen rollend, das Geſicht ent-
ſtellt, ſtuͤrzte ſie uͤber die Gallerie, und fand in
ihrer Angſt verblindet keine Thuͤr und Treppe,
und gleich darauf, ihr nachrennend, Emil, den blan-
ken tuͤrkiſchen Dolch in hoch erhobener Fauſt.
Jetzt war ſie am Ende des Ganges, ſie konnte
nicht weiter, er erreichte ſie. Die maskirten Freunde
und die graue Alte waren ihm nach geſtuͤrzt. Aber
ſchon hatte er wuͤthend ihre Bruſt durchbohrt, und
den weißen Hals durchſchnitten, ihr Blut ſtroͤmte
im Glanz des Abends. Die Alte hatte ſich mit
ihm umfaßt, ihn zuruͤck zu reißen; kaͤmpfend ſchleu-
derte er ſich mit ihr uͤber das Gelaͤnder, und beide
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[313/0324] Liebeszauber. Zug nach dem obern Corredor ſchweben: Roderich als die rothe Alte voran, und ihr nachfolgend Buck- lichte, dickbauchige Fratzen, ungeheure Perucken, Tartaglias, Policinells und geſpenſtiſche Pierrots, weibliche Figuren in ausgeſpannten Reifroͤcken und ellenhohen Friſuren, die widerwaͤrtigſten Geſtalten, alle wie aus einem aͤngſtlichen Traum. Sie zogen gaukelnd und ſich drehend und wackelnd, trippelnd und ſich bruͤſtend uͤber den Gang, und verſchwan- den dann in eine der Thuͤren. Nur wenige der Zuſchauer waren zum Lachen gekommen, ſo hatte ſie der ſeltſamſte Anblick uͤberraſcht. Ploͤtzlich brach ein gellender Schrei aus den innern Zimmern, und hervor ſtuͤrzte in das blutige Abendroth die bleiche Braut, im weißen kurzen Kleide, um welches Blu- menranken flatterten, der ſchoͤne Buſen ganz frei, die Fuͤlle der Locken in Luͤften ſchwebend. Wie wahnſinnig, die Augen rollend, das Geſicht ent- ſtellt, ſtuͤrzte ſie uͤber die Gallerie, und fand in ihrer Angſt verblindet keine Thuͤr und Treppe, und gleich darauf, ihr nachrennend, Emil, den blan- ken tuͤrkiſchen Dolch in hoch erhobener Fauſt. Jetzt war ſie am Ende des Ganges, ſie konnte nicht weiter, er erreichte ſie. Die maskirten Freunde und die graue Alte waren ihm nach geſtuͤrzt. Aber ſchon hatte er wuͤthend ihre Bruſt durchbohrt, und den weißen Hals durchſchnitten, ihr Blut ſtroͤmte im Glanz des Abends. Die Alte hatte ſich mit ihm umfaßt, ihn zuruͤck zu reißen; kaͤmpfend ſchleu- derte er ſich mit ihr uͤber das Gelaͤnder, und beide fielen zerſchmettert zu den Fuͤßen der Verwandten

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/324>, abgerufen am 23.11.2024.