tiefstem Mitleiden sagen sollte. Er fiel ihr um den Hals, und küßte sie. Elisabeth rief aus: O Gott! mein Mann kommt!
Sey ruhig, sagte er, ich bin dir so gut wie gestorben; dort im Walde wartet schon meine Schöne, die Gewaltige, auf mich, die mit dem goldenen Schleier geschmückt ist. Dieses ist mein liebstes Kind, Leonore. Komm her, mein theu- res, liebes Herz, und gieb mir auch einen Kuß, nur einen einzigen, daß ich einmal wieder deinen Mund auf meinen Lippen fühle, dann will ich euch verlassen.
Leonore weinte; sie schmiegte sich an ihre Mutter, die in Schluchzen und Thränen sie halb zum Wandrer lenkte, halb zog sie dieser zu sich, nahm sie in die Arme, und drückte sie an seine Brust. -- Dann ging er still fort, und im Walde sahen sie ihn mit dem entsetzlichen Waldweibe sprechen.
Was ist euch? fragte der Mann, als er Mut- ter und Tochter blaß und in Thränen aufgelöst fand. Keiner wollte ihm Antwort geben.
Der Unglückliche ward aber seitdem nicht wieder gesehen.
Manfred endigte und sah auf: ich merke, sagte er, meine Zuhörer, noch auffallender aber meine Zuhörerinnen, sind blaß geworden.
Gewiß, sagte Emilie, denn der Schluß ist zu schrecklich; es ist aber dem Vorleser nicht
besser
Erſte Abtheilung.
tiefſtem Mitleiden ſagen ſollte. Er fiel ihr um den Hals, und kuͤßte ſie. Eliſabeth rief aus: O Gott! mein Mann kommt!
Sey ruhig, ſagte er, ich bin dir ſo gut wie geſtorben; dort im Walde wartet ſchon meine Schoͤne, die Gewaltige, auf mich, die mit dem goldenen Schleier geſchmuͤckt iſt. Dieſes iſt mein liebſtes Kind, Leonore. Komm her, mein theu- res, liebes Herz, und gieb mir auch einen Kuß, nur einen einzigen, daß ich einmal wieder deinen Mund auf meinen Lippen fuͤhle, dann will ich euch verlaſſen.
Leonore weinte; ſie ſchmiegte ſich an ihre Mutter, die in Schluchzen und Thraͤnen ſie halb zum Wandrer lenkte, halb zog ſie dieſer zu ſich, nahm ſie in die Arme, und druͤckte ſie an ſeine Bruſt. — Dann ging er ſtill fort, und im Walde ſahen ſie ihn mit dem entſetzlichen Waldweibe ſprechen.
Was iſt euch? fragte der Mann, als er Mut- ter und Tochter blaß und in Thraͤnen aufgeloͤſt fand. Keiner wollte ihm Antwort geben.
Der Ungluͤckliche ward aber ſeitdem nicht wieder geſehen.
Manfred endigte und ſah auf: ich merke, ſagte er, meine Zuhoͤrer, noch auffallender aber meine Zuhoͤrerinnen, ſind blaß geworden.
Gewiß, ſagte Emilie, denn der Schluß iſt zu ſchrecklich; es iſt aber dem Vorleſer nicht
beſſer
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Erſte Abtheilung.
tiefſtem Mitleiden ſagen ſollte. Er fiel ihr um den
Hals, und kuͤßte ſie. Eliſabeth rief aus: O Gott!
mein Mann kommt!
Sey ruhig, ſagte er, ich bin dir ſo gut
wie geſtorben; dort im Walde wartet ſchon meine
Schoͤne, die Gewaltige, auf mich, die mit dem
goldenen Schleier geſchmuͤckt iſt. Dieſes iſt mein
liebſtes Kind, Leonore. Komm her, mein theu-
res, liebes Herz, und gieb mir auch einen Kuß,
nur einen einzigen, daß ich einmal wieder deinen
Mund auf meinen Lippen fuͤhle, dann will ich
euch verlaſſen.
Leonore weinte; ſie ſchmiegte ſich an ihre
Mutter, die in Schluchzen und Thraͤnen ſie halb
zum Wandrer lenkte, halb zog ſie dieſer zu ſich,
nahm ſie in die Arme, und druͤckte ſie an ſeine
Bruſt. — Dann ging er ſtill fort, und im Walde
ſahen ſie ihn mit dem entſetzlichen Waldweibe
ſprechen.
Was iſt euch? fragte der Mann, als er Mut-
ter und Tochter blaß und in Thraͤnen aufgeloͤſt
fand. Keiner wollte ihm Antwort geben.
Der Ungluͤckliche ward aber ſeitdem nicht
wieder geſehen.
Manfred endigte und ſah auf: ich merke,
ſagte er, meine Zuhoͤrer, noch auffallender aber
meine Zuhoͤrerinnen, ſind blaß geworden.
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iſt zu ſchrecklich; es iſt aber dem Vorleſer nicht
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/283>, abgerufen am 22.11.2024.
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