Von demantnen Säulen Fließen Thränenquellen, Töne klingen drein; In den klaren hellen Schön durchsichtigen Wellen Bildet sich der Schein, Der die Seelen ziehet, Dem das Herz erglühet. Kommt ihr Geister alle Zu der goldnen Halle, Hebt aus tiefen Dunkeln Häupter, welche funkeln! Macht der Herzen und der Geister, Die so durstig sind im Sehnen, Mit den leuchtend schönen Thränen Allgewaltig euch zum Meister!
Als sie geendigt hatte, fing sie an sich zu ent- kleiden, und ihre Gewänder in einen kostbaren Wandschrank zu legen. Erst nahm sie einen gol- denen Schleyer vom Haupte, und ein langes schwar- zes Haar floß in geringelter Fülle bis über die Hüften hinab; dann löste sie das Gewand des Busens, und der Jüngling vergaß sich und die Welt im Anschauen der überirdischen Schönheit. Er wagte kaum zu athmen, als sie nach und nach alle Hüllen löste; nackt schritt sie endlich im Saale auf und nieder, und ihre schweren schwebenden Locken bildeten um sie her ein dunkel wogendes Meer, aus dem wie Marmor die glänzenden For- men des reinen Leibes abwechselnd hervor strahl- ten. Nach geraumer Zeit näherte sie sich einem andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-
Der Runenberg.
Von demantnen Saͤulen Fließen Thraͤnenquellen, Toͤne klingen drein; In den klaren hellen Schoͤn durchſichtigen Wellen Bildet ſich der Schein, Der die Seelen ziehet, Dem das Herz ergluͤhet. Kommt ihr Geiſter alle Zu der goldnen Halle, Hebt aus tiefen Dunkeln Haͤupter, welche funkeln! Macht der Herzen und der Geiſter, Die ſo durſtig ſind im Sehnen, Mit den leuchtend ſchoͤnen Thraͤnen Allgewaltig euch zum Meiſter!
Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent- kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol- denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar- zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit. Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For- men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl- ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><lgtype="poem"><pbfacs="#f0260"n="249"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Der Runenberg</hi>.</fw><lb/><l>Von demantnen Saͤulen</l><lb/><l>Fließen Thraͤnenquellen,</l><lb/><l>Toͤne klingen drein;</l><lb/><l>In den klaren hellen</l><lb/><l>Schoͤn durchſichtigen Wellen</l><lb/><l>Bildet ſich der Schein,</l><lb/><l>Der die Seelen ziehet,</l><lb/><l>Dem das Herz ergluͤhet.</l><lb/><l>Kommt ihr Geiſter alle</l><lb/><l>Zu der goldnen Halle,</l><lb/><l>Hebt aus tiefen Dunkeln</l><lb/><l>Haͤupter, welche funkeln!</l><lb/><l>Macht der Herzen und der Geiſter,</l><lb/><l>Die ſo durſtig ſind im Sehnen,</l><lb/><l>Mit den leuchtend ſchoͤnen Thraͤnen</l><lb/><l>Allgewaltig euch zum Meiſter!</l></lg><lb/><p>Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent-<lb/>
kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren<lb/>
Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol-<lb/>
denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar-<lb/>
zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die<lb/>
Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des<lb/>
Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die<lb/>
Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit.<lb/>
Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach<lb/>
alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale<lb/>
auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden<lb/>
Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes<lb/>
Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For-<lb/>
men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl-<lb/>
ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem<lb/>
andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[249/0260]
Der Runenberg.
Von demantnen Saͤulen
Fließen Thraͤnenquellen,
Toͤne klingen drein;
In den klaren hellen
Schoͤn durchſichtigen Wellen
Bildet ſich der Schein,
Der die Seelen ziehet,
Dem das Herz ergluͤhet.
Kommt ihr Geiſter alle
Zu der goldnen Halle,
Hebt aus tiefen Dunkeln
Haͤupter, welche funkeln!
Macht der Herzen und der Geiſter,
Die ſo durſtig ſind im Sehnen,
Mit den leuchtend ſchoͤnen Thraͤnen
Allgewaltig euch zum Meiſter!
Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent-
kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren
Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol-
denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar-
zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die
Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des
Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die
Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit.
Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach
alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale
auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden
Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes
Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For-
men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl-
ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem
andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/260>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.