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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Runenberg.
Verwandten hinweg genommen, mein Geist war
seiner selbst nicht mächtig, wie ein Vogel, der in
einem Netz gefangen ist und sich vergeblich sträubt,
so verstrickt war meine Seele in seltsamen Vor-
stellungen und Wünschen. Wir wohnten weit von
hier in einer Ebene, in der man rund umher kei-
nen Berg, kaum eine Anhöhe erblickte; wenige
Bäume schmückten den grünen Plan, aber Wie-
sen, fruchtbare Kornfelder und Gärten zogen sich
hin, so weit das Auge reichen konnte, ein großer
Fluß glänzte wie ein mächtiger Geist an den Wie-
sen und Feldern vorbei. Mein Vater war Gärt-
ner im Schloß und hatte vor, mich ebenfalls
zu seiner Beschäftigung zu erziehen; er liebte die
Pflanzen und Blumen über alles und konnte sich
tagelang unermüdet mit ihrer Wartung und Pflege
abgeben. Ja er ging so weit, daß er behauptete,
er könne fast mit ihnen sprechen; er lerne von ih-
rem Wachsthum und Gedeihen, so wie von der
verschiedenen Gestalt und Farbe ihrer Blätter. Mir
war die Gartenarbeit zuwider, um so mehr, als
mein Vater mir zuredete, oder gar mit Drohun-
gen mich zu zwingen versuchte. Ich wollte Fischer
werden, und machte den Versuch, allein das Leben
auf dem Wasser stand mir auch nicht an; ich wurde
dann zu einem Handelsmann in die Stadt gege-
ben, und kam auch von ihm bald in das väterliche
Haus zurück. Auf einmal hörte ich meinen Vater
von Gebürgen erzählen, die er in seiner Jugend
bereiset hatte, von den unterirdischen Bergwerken
und ihren Arbeitern, von Jägern und ihrer Be-

Der Runenberg.
Verwandten hinweg genommen, mein Geiſt war
ſeiner ſelbſt nicht maͤchtig, wie ein Vogel, der in
einem Netz gefangen iſt und ſich vergeblich ſtraͤubt,
ſo verſtrickt war meine Seele in ſeltſamen Vor-
ſtellungen und Wuͤnſchen. Wir wohnten weit von
hier in einer Ebene, in der man rund umher kei-
nen Berg, kaum eine Anhoͤhe erblickte; wenige
Baͤume ſchmuͤckten den gruͤnen Plan, aber Wie-
ſen, fruchtbare Kornfelder und Gaͤrten zogen ſich
hin, ſo weit das Auge reichen konnte, ein großer
Fluß glaͤnzte wie ein maͤchtiger Geiſt an den Wie-
ſen und Feldern vorbei. Mein Vater war Gaͤrt-
ner im Schloß und hatte vor, mich ebenfalls
zu ſeiner Beſchaͤftigung zu erziehen; er liebte die
Pflanzen und Blumen uͤber alles und konnte ſich
tagelang unermuͤdet mit ihrer Wartung und Pflege
abgeben. Ja er ging ſo weit, daß er behauptete,
er koͤnne faſt mit ihnen ſprechen; er lerne von ih-
rem Wachsthum und Gedeihen, ſo wie von der
verſchiedenen Geſtalt und Farbe ihrer Blaͤtter. Mir
war die Gartenarbeit zuwider, um ſo mehr, als
mein Vater mir zuredete, oder gar mit Drohun-
gen mich zu zwingen verſuchte. Ich wollte Fiſcher
werden, und machte den Verſuch, allein das Leben
auf dem Waſſer ſtand mir auch nicht an; ich wurde
dann zu einem Handelsmann in die Stadt gege-
ben, und kam auch von ihm bald in das vaͤterliche
Haus zuruͤck. Auf einmal hoͤrte ich meinen Vater
von Gebuͤrgen erzaͤhlen, die er in ſeiner Jugend
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[243/0254] Der Runenberg. Verwandten hinweg genommen, mein Geiſt war ſeiner ſelbſt nicht maͤchtig, wie ein Vogel, der in einem Netz gefangen iſt und ſich vergeblich ſtraͤubt, ſo verſtrickt war meine Seele in ſeltſamen Vor- ſtellungen und Wuͤnſchen. Wir wohnten weit von hier in einer Ebene, in der man rund umher kei- nen Berg, kaum eine Anhoͤhe erblickte; wenige Baͤume ſchmuͤckten den gruͤnen Plan, aber Wie- ſen, fruchtbare Kornfelder und Gaͤrten zogen ſich hin, ſo weit das Auge reichen konnte, ein großer Fluß glaͤnzte wie ein maͤchtiger Geiſt an den Wie- ſen und Feldern vorbei. Mein Vater war Gaͤrt- ner im Schloß und hatte vor, mich ebenfalls zu ſeiner Beſchaͤftigung zu erziehen; er liebte die Pflanzen und Blumen uͤber alles und konnte ſich tagelang unermuͤdet mit ihrer Wartung und Pflege abgeben. Ja er ging ſo weit, daß er behauptete, er koͤnne faſt mit ihnen ſprechen; er lerne von ih- rem Wachsthum und Gedeihen, ſo wie von der verſchiedenen Geſtalt und Farbe ihrer Blaͤtter. Mir war die Gartenarbeit zuwider, um ſo mehr, als mein Vater mir zuredete, oder gar mit Drohun- gen mich zu zwingen verſuchte. Ich wollte Fiſcher werden, und machte den Verſuch, allein das Leben auf dem Waſſer ſtand mir auch nicht an; ich wurde dann zu einem Handelsmann in die Stadt gege- ben, und kam auch von ihm bald in das vaͤterliche Haus zuruͤck. Auf einmal hoͤrte ich meinen Vater von Gebuͤrgen erzaͤhlen, die er in ſeiner Jugend bereiſet hatte, von den unterirdiſchen Bergwerken und ihren Arbeitern, von Jaͤgern und ihrer Be-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/254>, abgerufen am 22.11.2024.