möchte ich lieber eine Scene in "Wie es Euch gefällt" geschrieben haben, als die Novelle er- funden, aus welcher dies Lustspiel entsprungen ist. Der Erzähler kann seinen Gegenstand, wenn dieser interessant ist, schmücken und erheben, sei- nen Geschmack und seine Kunst in der Umbil- dung beweisen, ich frage aber immer gern: wer hat diese Sache zuerst ersonnen, falls sie sich nicht wirklich zugetragen hat?
Ich gebe Ihnen gern Recht, sagte Ernst, und um so lieber, weil ich Ihnen mit meinem Gedichte dann etwas dreister nahen darf, weil ich es wenigstens für eigene Erfindung ausge- ben kann. In sofern freilich nicht, als die Vorstellung vom verzauberten Berge der Venus im Mittelalter allgemein verbreitet war, aber das Gedicht vom Tannenhäuser hatte ich, da- mals so wie jetzt, noch nicht gelesen, eben so wenig kannte ich damals die Niebelungen, son- dern nur das Heldenbuch, in dessen Vorrede ein getreuer Eckart erwähnt wird, der die jungen Harlungen beschützt, und der nachher beim Hans Sachs und andern Dichtern oftmals sprichwört- lich vorkömmt, und immer vor dem Berge der Venus Wache hält. Aus diesen allgemeinen, unbestimmten Vorstellungen in welche ich noch die Sage von dem berüchtigten Rattenfänger von Hameln aufgenommen und verkleidet habe, ist folgendes Gedicht entstanden.
Erſte Abtheilung.
moͤchte ich lieber eine Scene in „Wie es Euch gefaͤllt“ geſchrieben haben, als die Novelle er- funden, aus welcher dies Luſtſpiel entſprungen iſt. Der Erzaͤhler kann ſeinen Gegenſtand, wenn dieſer intereſſant iſt, ſchmuͤcken und erheben, ſei- nen Geſchmack und ſeine Kunſt in der Umbil- dung beweiſen, ich frage aber immer gern: wer hat dieſe Sache zuerſt erſonnen, falls ſie ſich nicht wirklich zugetragen hat?
Ich gebe Ihnen gern Recht, ſagte Ernſt, und um ſo lieber, weil ich Ihnen mit meinem Gedichte dann etwas dreiſter nahen darf, weil ich es wenigſtens fuͤr eigene Erfindung ausge- ben kann. In ſofern freilich nicht, als die Vorſtellung vom verzauberten Berge der Venus im Mittelalter allgemein verbreitet war, aber das Gedicht vom Tannenhaͤuſer hatte ich, da- mals ſo wie jetzt, noch nicht geleſen, eben ſo wenig kannte ich damals die Niebelungen, ſon- dern nur das Heldenbuch, in deſſen Vorrede ein getreuer Eckart erwaͤhnt wird, der die jungen Harlungen beſchuͤtzt, und der nachher beim Hans Sachs und andern Dichtern oftmals ſprichwoͤrt- lich vorkoͤmmt, und immer vor dem Berge der Venus Wache haͤlt. Aus dieſen allgemeinen, unbeſtimmten Vorſtellungen in welche ich noch die Sage von dem beruͤchtigten Rattenfaͤnger von Hameln aufgenommen und verkleidet habe, iſt folgendes Gedicht entſtanden.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0206"n="195"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
moͤchte ich lieber eine Scene in „Wie es Euch<lb/>
gefaͤllt“ geſchrieben haben, als die Novelle er-<lb/>
funden, aus welcher dies Luſtſpiel entſprungen<lb/>
iſt. Der Erzaͤhler kann ſeinen Gegenſtand, wenn<lb/>
dieſer intereſſant iſt, ſchmuͤcken und erheben, ſei-<lb/>
nen Geſchmack und ſeine Kunſt in der Umbil-<lb/>
dung beweiſen, ich frage aber immer gern: wer<lb/>
hat dieſe Sache zuerſt erſonnen, falls ſie ſich<lb/>
nicht wirklich zugetragen hat?</p><lb/><p>Ich gebe Ihnen gern Recht, ſagte Ernſt,<lb/>
und um ſo lieber, weil ich Ihnen mit meinem<lb/>
Gedichte dann etwas dreiſter nahen darf, weil<lb/>
ich es wenigſtens fuͤr eigene Erfindung ausge-<lb/>
ben kann. In ſofern freilich nicht, als die<lb/>
Vorſtellung vom verzauberten Berge der Venus<lb/>
im Mittelalter allgemein verbreitet war, aber<lb/>
das Gedicht vom Tannenhaͤuſer hatte ich, da-<lb/>
mals ſo wie jetzt, noch nicht geleſen, eben ſo<lb/>
wenig kannte ich damals die Niebelungen, ſon-<lb/>
dern nur das Heldenbuch, in deſſen Vorrede ein<lb/>
getreuer Eckart erwaͤhnt wird, der die jungen<lb/>
Harlungen beſchuͤtzt, und der nachher beim Hans<lb/>
Sachs und andern Dichtern oftmals ſprichwoͤrt-<lb/>
lich vorkoͤmmt, und immer vor dem Berge der<lb/>
Venus Wache haͤlt. Aus dieſen allgemeinen,<lb/>
unbeſtimmten Vorſtellungen in welche ich noch<lb/>
die Sage von dem beruͤchtigten Rattenfaͤnger von<lb/>
Hameln aufgenommen und verkleidet habe, iſt<lb/>
folgendes Gedicht entſtanden.</p></div><lb/></div></body></text></TEI>
[195/0206]
Erſte Abtheilung.
moͤchte ich lieber eine Scene in „Wie es Euch
gefaͤllt“ geſchrieben haben, als die Novelle er-
funden, aus welcher dies Luſtſpiel entſprungen
iſt. Der Erzaͤhler kann ſeinen Gegenſtand, wenn
dieſer intereſſant iſt, ſchmuͤcken und erheben, ſei-
nen Geſchmack und ſeine Kunſt in der Umbil-
dung beweiſen, ich frage aber immer gern: wer
hat dieſe Sache zuerſt erſonnen, falls ſie ſich
nicht wirklich zugetragen hat?
Ich gebe Ihnen gern Recht, ſagte Ernſt,
und um ſo lieber, weil ich Ihnen mit meinem
Gedichte dann etwas dreiſter nahen darf, weil
ich es wenigſtens fuͤr eigene Erfindung ausge-
ben kann. In ſofern freilich nicht, als die
Vorſtellung vom verzauberten Berge der Venus
im Mittelalter allgemein verbreitet war, aber
das Gedicht vom Tannenhaͤuſer hatte ich, da-
mals ſo wie jetzt, noch nicht geleſen, eben ſo
wenig kannte ich damals die Niebelungen, ſon-
dern nur das Heldenbuch, in deſſen Vorrede ein
getreuer Eckart erwaͤhnt wird, der die jungen
Harlungen beſchuͤtzt, und der nachher beim Hans
Sachs und andern Dichtern oftmals ſprichwoͤrt-
lich vorkoͤmmt, und immer vor dem Berge der
Venus Wache haͤlt. Aus dieſen allgemeinen,
unbeſtimmten Vorſtellungen in welche ich noch
die Sage von dem beruͤchtigten Rattenfaͤnger von
Hameln aufgenommen und verkleidet habe, iſt
folgendes Gedicht entſtanden.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/206>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.