Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
Nichtachten ebenfalls nicht begriff und dich fast
für schlechten Herzens erklärt hätte, da er dich
nicht stumpfsinnig nennen wollte: endlich, bei
den Goldschlägern, lebtest du zu seiner Freude
wieder auf, es geschah aber nur, weil du hier
die Gelegenheit hattest, dir die Pergamentblät-
ter zeigen zu lassen, die zur Arbeit gebraucht wer-
den; du bedauertest zu seinem Verdruß sogar die
zerschnittenen Meßbücher, und wühltest herum,
um vielleicht ein Stück eines altdeutschen Ge-
dichtes zu entdecken, wofür der aufgeklärte Leh-
rer kein Blättchen Goldschaum aufgeopfert hätte.

Es ist gut, sagte Ernst, daß die Menschen
verschieden denken und sich auf mannigfaltige
Weise interessiren, doch war die ganze Welt da-
mals zu einseitig auf ein Interesse hingespannt,
das seitdem auch schon mehr und mehr als Irr-
thum erkannt ist. Dieses Nord-Amerika von
Fürth konnte mir freilich wohl neben dem alt-
bürgerlichen, germanischen, kunstvollen Nürnberg
nicht gefallen, und wie sehnsüchtig eilte ich nach
der geliebten Stadt zurück, in der der theure
Dürer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das
herrliche Rathhaus, so manche Sammlungen,
Spuren seiner Thätigkeit, und der Johannis-
Kirchhof seinen Leichnam selber bewahrte; wie
gern schweifte ich durch die krummen Gassen,
über die Brücken und Plätze, wo künstliche Brun-
nen, Gebilde aller Art, mich an eine schöne Pe-
riode Deutschlands erinnerten, ja! damals noch

Einleitung.
Nichtachten ebenfalls nicht begriff und dich faſt
fuͤr ſchlechten Herzens erklaͤrt haͤtte, da er dich
nicht ſtumpfſinnig nennen wollte: endlich, bei
den Goldſchlaͤgern, lebteſt du zu ſeiner Freude
wieder auf, es geſchah aber nur, weil du hier
die Gelegenheit hatteſt, dir die Pergamentblaͤt-
ter zeigen zu laſſen, die zur Arbeit gebraucht wer-
den; du bedauerteſt zu ſeinem Verdruß ſogar die
zerſchnittenen Meßbuͤcher, und wuͤhlteſt herum,
um vielleicht ein Stuͤck eines altdeutſchen Ge-
dichtes zu entdecken, wofuͤr der aufgeklaͤrte Leh-
rer kein Blaͤttchen Goldſchaum aufgeopfert haͤtte.

Es iſt gut, ſagte Ernſt, daß die Menſchen
verſchieden denken und ſich auf mannigfaltige
Weiſe intereſſiren, doch war die ganze Welt da-
mals zu einſeitig auf ein Intereſſe hingeſpannt,
das ſeitdem auch ſchon mehr und mehr als Irr-
thum erkannt iſt. Dieſes Nord-Amerika von
Fuͤrth konnte mir freilich wohl neben dem alt-
buͤrgerlichen, germaniſchen, kunſtvollen Nuͤrnberg
nicht gefallen, und wie ſehnſuͤchtig eilte ich nach
der geliebten Stadt zuruͤck, in der der theure
Duͤrer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das
herrliche Rathhaus, ſo manche Sammlungen,
Spuren ſeiner Thaͤtigkeit, und der Johannis-
Kirchhof ſeinen Leichnam ſelber bewahrte; wie
gern ſchweifte ich durch die krummen Gaſſen,
uͤber die Bruͤcken und Plaͤtze, wo kuͤnſtliche Brun-
nen, Gebilde aller Art, mich an eine ſchoͤne Pe-
riode Deutſchlands erinnerten, ja! damals noch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0020" n="9"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
Nichtachten ebenfalls nicht begriff und dich fa&#x017F;t<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;chlechten Herzens erkla&#x0364;rt ha&#x0364;tte, da er dich<lb/>
nicht &#x017F;tumpf&#x017F;innig nennen wollte: endlich, bei<lb/>
den Gold&#x017F;chla&#x0364;gern, lebte&#x017F;t du zu &#x017F;einer Freude<lb/>
wieder auf, es ge&#x017F;chah aber nur, weil du hier<lb/>
die Gelegenheit hatte&#x017F;t, dir die Pergamentbla&#x0364;t-<lb/>
ter zeigen zu la&#x017F;&#x017F;en, die zur Arbeit gebraucht wer-<lb/>
den; du bedauerte&#x017F;t zu &#x017F;einem Verdruß &#x017F;ogar die<lb/>
zer&#x017F;chnittenen Meßbu&#x0364;cher, und wu&#x0364;hlte&#x017F;t herum,<lb/>
um vielleicht ein Stu&#x0364;ck eines altdeut&#x017F;chen Ge-<lb/>
dichtes zu entdecken, wofu&#x0364;r der aufgekla&#x0364;rte Leh-<lb/>
rer kein Bla&#x0364;ttchen Gold&#x017F;chaum aufgeopfert ha&#x0364;tte.</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t gut, &#x017F;agte Ern&#x017F;t, daß die Men&#x017F;chen<lb/>
ver&#x017F;chieden denken und &#x017F;ich auf mannigfaltige<lb/>
Wei&#x017F;e intere&#x017F;&#x017F;iren, doch war die ganze Welt da-<lb/>
mals zu ein&#x017F;eitig auf ein Intere&#x017F;&#x017F;e hinge&#x017F;pannt,<lb/>
das &#x017F;eitdem auch &#x017F;chon mehr und mehr als Irr-<lb/>
thum erkannt i&#x017F;t. Die&#x017F;es Nord-Amerika von<lb/>
Fu&#x0364;rth konnte mir freilich wohl neben dem alt-<lb/>
bu&#x0364;rgerlichen, germani&#x017F;chen, kun&#x017F;tvollen Nu&#x0364;rnberg<lb/>
nicht gefallen, und wie &#x017F;ehn&#x017F;u&#x0364;chtig eilte ich nach<lb/>
der geliebten Stadt zuru&#x0364;ck, in der der theure<lb/>
Du&#x0364;rer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das<lb/>
herrliche Rathhaus, &#x017F;o manche Sammlungen,<lb/>
Spuren &#x017F;einer Tha&#x0364;tigkeit, und der Johannis-<lb/>
Kirchhof &#x017F;einen Leichnam &#x017F;elber bewahrte; wie<lb/>
gern &#x017F;chweifte ich durch die krummen Ga&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
u&#x0364;ber die Bru&#x0364;cken und Pla&#x0364;tze, wo ku&#x0364;n&#x017F;tliche Brun-<lb/>
nen, Gebilde aller Art, mich an eine &#x017F;cho&#x0364;ne Pe-<lb/>
riode Deut&#x017F;chlands erinnerten, ja! damals noch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0020] Einleitung. Nichtachten ebenfalls nicht begriff und dich faſt fuͤr ſchlechten Herzens erklaͤrt haͤtte, da er dich nicht ſtumpfſinnig nennen wollte: endlich, bei den Goldſchlaͤgern, lebteſt du zu ſeiner Freude wieder auf, es geſchah aber nur, weil du hier die Gelegenheit hatteſt, dir die Pergamentblaͤt- ter zeigen zu laſſen, die zur Arbeit gebraucht wer- den; du bedauerteſt zu ſeinem Verdruß ſogar die zerſchnittenen Meßbuͤcher, und wuͤhlteſt herum, um vielleicht ein Stuͤck eines altdeutſchen Ge- dichtes zu entdecken, wofuͤr der aufgeklaͤrte Leh- rer kein Blaͤttchen Goldſchaum aufgeopfert haͤtte. Es iſt gut, ſagte Ernſt, daß die Menſchen verſchieden denken und ſich auf mannigfaltige Weiſe intereſſiren, doch war die ganze Welt da- mals zu einſeitig auf ein Intereſſe hingeſpannt, das ſeitdem auch ſchon mehr und mehr als Irr- thum erkannt iſt. Dieſes Nord-Amerika von Fuͤrth konnte mir freilich wohl neben dem alt- buͤrgerlichen, germaniſchen, kunſtvollen Nuͤrnberg nicht gefallen, und wie ſehnſuͤchtig eilte ich nach der geliebten Stadt zuruͤck, in der der theure Duͤrer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das herrliche Rathhaus, ſo manche Sammlungen, Spuren ſeiner Thaͤtigkeit, und der Johannis- Kirchhof ſeinen Leichnam ſelber bewahrte; wie gern ſchweifte ich durch die krummen Gaſſen, uͤber die Bruͤcken und Plaͤtze, wo kuͤnſtliche Brun- nen, Gebilde aller Art, mich an eine ſchoͤne Pe- riode Deutſchlands erinnerten, ja! damals noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/20
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/20>, abgerufen am 02.05.2024.