auch in unserm Innern Gedichte und Mähr- chen, indem wir die ungeheure Leere, das furcht- bare Chaos, mit Gestalten bevölkern, und kunst- mäßig den unerfreulichen Raum schmücken; diese Gebilde aber können dann freilich nicht den Cha- rakter ihres Erzeugers verläugnen. In diesen Natur-Mährchen mischt sich das Liebliche mit dem Schrecklichen, das Seltsame mit dem Kin- dischen, und verwirrt unsre Phantasie bis zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu lösen und frei zu machen.
Sind die Mährchen, fragte Clara, die Sie uns mittheilen wollen, von dieser Art?
Vielleicht, antwortete Ernst.
Doch nicht allegorisch?
Wie wir es nennen wollen, sagte jener. Es giebt vielleicht keine Erfindung, die nicht die Al- legorie, auch unbewußt, zum Grund und Boden ihres Wesens hätte. Gut und böse ist die dop- pelte Erscheinung, die schon das Kind in jeder Dichtung am leichtesten versteht, die uns in jeder Darstellung von neuem ergreift, die uns aus jedem Räthsel in den mannichfaltigsten Formen anspricht und sich selbst zum Verständniß rin- gend auflösen will. Es giebt eine Art, das gewöhn- lichste Leben wie ein Mährchen anzusehn, eben so kann man sich mit dem Wundervollsten, als wäre es das Alltäglichste, vertraut machen. Man könnte sagen, alles, das Gewöhnlichste wie das Wunderbarste, Leichteste und Lustigste habe nur
Erſte Abtheilung.
auch in unſerm Innern Gedichte und Maͤhr- chen, indem wir die ungeheure Leere, das furcht- bare Chaos, mit Geſtalten bevoͤlkern, und kunſt- maͤßig den unerfreulichen Raum ſchmuͤcken; dieſe Gebilde aber koͤnnen dann freilich nicht den Cha- rakter ihres Erzeugers verlaͤugnen. In dieſen Natur-Maͤhrchen miſcht ſich das Liebliche mit dem Schrecklichen, das Seltſame mit dem Kin- diſchen, und verwirrt unſre Phantaſie bis zum poetiſchen Wahnſinn, um dieſen ſelbſt nur in unſerm Innern zu loͤſen und frei zu machen.
Sind die Maͤhrchen, fragte Clara, die Sie uns mittheilen wollen, von dieſer Art?
Vielleicht, antwortete Ernſt.
Doch nicht allegoriſch?
Wie wir es nennen wollen, ſagte jener. Es giebt vielleicht keine Erfindung, die nicht die Al- legorie, auch unbewußt, zum Grund und Boden ihres Weſens haͤtte. Gut und boͤſe iſt die dop- pelte Erſcheinung, die ſchon das Kind in jeder Dichtung am leichteſten verſteht, die uns in jeder Darſtellung von neuem ergreift, die uns aus jedem Raͤthſel in den mannichfaltigſten Formen anſpricht und ſich ſelbſt zum Verſtaͤndniß rin- gend aufloͤſen will. Es giebt eine Art, das gewoͤhn- lichſte Leben wie ein Maͤhrchen anzuſehn, eben ſo kann man ſich mit dem Wundervollſten, als waͤre es das Alltaͤglichſte, vertraut machen. Man koͤnnte ſagen, alles, das Gewoͤhnlichſte wie das Wunderbarſte, Leichteſte und Luſtigſte habe nur
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Erſte Abtheilung.
auch in unſerm Innern Gedichte und Maͤhr-
chen, indem wir die ungeheure Leere, das furcht-
bare Chaos, mit Geſtalten bevoͤlkern, und kunſt-
maͤßig den unerfreulichen Raum ſchmuͤcken; dieſe
Gebilde aber koͤnnen dann freilich nicht den Cha-
rakter ihres Erzeugers verlaͤugnen. In dieſen
Natur-Maͤhrchen miſcht ſich das Liebliche mit
dem Schrecklichen, das Seltſame mit dem Kin-
diſchen, und verwirrt unſre Phantaſie bis zum
poetiſchen Wahnſinn, um dieſen ſelbſt nur in
unſerm Innern zu loͤſen und frei zu machen.
Sind die Maͤhrchen, fragte Clara, die Sie
uns mittheilen wollen, von dieſer Art?
Vielleicht, antwortete Ernſt.
Doch nicht allegoriſch?
Wie wir es nennen wollen, ſagte jener. Es
giebt vielleicht keine Erfindung, die nicht die Al-
legorie, auch unbewußt, zum Grund und Boden
ihres Weſens haͤtte. Gut und boͤſe iſt die dop-
pelte Erſcheinung, die ſchon das Kind in jeder
Dichtung am leichteſten verſteht, die uns in jeder
Darſtellung von neuem ergreift, die uns aus
jedem Raͤthſel in den mannichfaltigſten Formen
anſpricht und ſich ſelbſt zum Verſtaͤndniß rin-
gend aufloͤſen will. Es giebt eine Art, das gewoͤhn-
lichſte Leben wie ein Maͤhrchen anzuſehn, eben
ſo kann man ſich mit dem Wundervollſten, als
waͤre es das Alltaͤglichſte, vertraut machen. Man
koͤnnte ſagen, alles, das Gewoͤhnlichſte wie das
Wunderbarſte, Leichteſte und Luſtigſte habe nur
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/160>, abgerufen am 03.12.2024.
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