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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
ohne allen Nachtheil lesen, da ihr Geist gestärkt
ist, und ihr Sinn das Edlere anstrebt.

Mit Recht, sagte Manfred, macht Jean
Paul Thümmeln den Vorwurf, daß er zu un-
sauber sei (denn dessen Reisen gehören recht
zu jenen eben gerügten Werken, und die Bekeh-
rung des lockern Passagiers in den letzten Bän-
den ist noch die schlimmste Sünde des Autors);
ich aber möchte unserm witzigen Jean Paul mit
demselben Rechte einen andern Vorwurf machen,
daß er zwar nicht zu keusch, wohl aber zu prüde
sei. Ein Autor, der so das Gesammte der Men-
schennatur, das Seltsamste, Wildeste und Tollste
in seinen humoristischen Ergießungen aussprechen
will, darf in diesen Regionen des Witzes und
der Laune kein Fremdling sein, oder aus miß-
verstandner Moral neben der Unzucht und Un-
sitte auch die Schalkheit verachten wollen. Noch
seltsamer aber, daß er die medizinischen und wahr-
haft ekelhaften Späße liebt, die kaum Witz zu-
lassen und meist nur Widerwillen erregen, wenn
man nicht die Feder des Rabelais besitzt, der
freilich wohl sein Kapital von der Gaya Ciencia
schreiben durfte. Aber, theure Emilie, und Gat-
tin und Schwestern, um auf das zurück zu kom-
men, wovon wir ausgingen, so mag freilich wohl
hie und da in unsern Dichtungen (vielleicht nur
in meinen, der ich ein oder zweimal das Haus-
recht brauchen und den Wirth spielen möchte)
etwas vorkommen, was die übertriebene Delika-
tesse kränkelnder Menschen (ich meine dich, An-

Einleitung.
ohne allen Nachtheil leſen, da ihr Geiſt geſtaͤrkt
iſt, und ihr Sinn das Edlere anſtrebt.

Mit Recht, ſagte Manfred, macht Jean
Paul Thuͤmmeln den Vorwurf, daß er zu un-
ſauber ſei (denn deſſen Reiſen gehoͤren recht
zu jenen eben geruͤgten Werken, und die Bekeh-
rung des lockern Paſſagiers in den letzten Baͤn-
den iſt noch die ſchlimmſte Suͤnde des Autors);
ich aber moͤchte unſerm witzigen Jean Paul mit
demſelben Rechte einen andern Vorwurf machen,
daß er zwar nicht zu keuſch, wohl aber zu pruͤde
ſei. Ein Autor, der ſo das Geſammte der Men-
ſchennatur, das Seltſamſte, Wildeſte und Tollſte
in ſeinen humoriſtiſchen Ergießungen ausſprechen
will, darf in dieſen Regionen des Witzes und
der Laune kein Fremdling ſein, oder aus miß-
verſtandner Moral neben der Unzucht und Un-
ſitte auch die Schalkheit verachten wollen. Noch
ſeltſamer aber, daß er die mediziniſchen und wahr-
haft ekelhaften Spaͤße liebt, die kaum Witz zu-
laſſen und meiſt nur Widerwillen erregen, wenn
man nicht die Feder des Rabelais beſitzt, der
freilich wohl ſein Kapital von der Gaya Ciencia
ſchreiben durfte. Aber, theure Emilie, und Gat-
tin und Schweſtern, um auf das zuruͤck zu kom-
men, wovon wir ausgingen, ſo mag freilich wohl
hie und da in unſern Dichtungen (vielleicht nur
in meinen, der ich ein oder zweimal das Haus-
recht brauchen und den Wirth ſpielen moͤchte)
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[130/0141] Einleitung. ohne allen Nachtheil leſen, da ihr Geiſt geſtaͤrkt iſt, und ihr Sinn das Edlere anſtrebt. Mit Recht, ſagte Manfred, macht Jean Paul Thuͤmmeln den Vorwurf, daß er zu un- ſauber ſei (denn deſſen Reiſen gehoͤren recht zu jenen eben geruͤgten Werken, und die Bekeh- rung des lockern Paſſagiers in den letzten Baͤn- den iſt noch die ſchlimmſte Suͤnde des Autors); ich aber moͤchte unſerm witzigen Jean Paul mit demſelben Rechte einen andern Vorwurf machen, daß er zwar nicht zu keuſch, wohl aber zu pruͤde ſei. Ein Autor, der ſo das Geſammte der Men- ſchennatur, das Seltſamſte, Wildeſte und Tollſte in ſeinen humoriſtiſchen Ergießungen ausſprechen will, darf in dieſen Regionen des Witzes und der Laune kein Fremdling ſein, oder aus miß- verſtandner Moral neben der Unzucht und Un- ſitte auch die Schalkheit verachten wollen. Noch ſeltſamer aber, daß er die mediziniſchen und wahr- haft ekelhaften Spaͤße liebt, die kaum Witz zu- laſſen und meiſt nur Widerwillen erregen, wenn man nicht die Feder des Rabelais beſitzt, der freilich wohl ſein Kapital von der Gaya Ciencia ſchreiben durfte. Aber, theure Emilie, und Gat- tin und Schweſtern, um auf das zuruͤck zu kom- men, wovon wir ausgingen, ſo mag freilich wohl hie und da in unſern Dichtungen (vielleicht nur in meinen, der ich ein oder zweimal das Haus- recht brauchen und den Wirth ſpielen moͤchte) etwas vorkommen, was die uͤbertriebene Delika- teſſe kraͤnkelnder Menſchen (ich meine dich, An-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/141>, abgerufen am 24.11.2024.