Zustände des Wachens und Schlafens mehr als Geschwister behandeln, wir würden dann klarer wachen und bewußtvoller und leichter träumen. Suchen wir doch am Tage mit der Phantasie auf diesem Fuße zu leben, und wie viel könn- ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen, wenn wir sie als solche mehr achteten und be- achteten. So finden wir auch in der alten Welt die Träume nicht so vernachläßigt, son- dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den Glauben der Menschen eine glänzende Wirklich- keit hervor.
Wir träumen ja auch nur die Natur, sagte Ernst, und möchten diesen Traum ausdeuten; auf dieselbe Weise entfernt und nahe ist uns die Schönheit, und so wahrsagen wir auch aus dem Heiligthum unsers Innern, wie aus einer Welt des Traumes heraus.
So könnte man denn wohl, unterbrach Theodor, aus witziger Willkühr mit der Wirk- lichkeit wie mit Träumen spielen, und die Ge- burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre anerkennen wollen.
Thun denn so viele Menschen etwas anders? fragte Wilibald.
Und thun sie denn so gar unrecht? ant- wortete Ernst mit neuer Frage.
Wir gerathen auf diesem Wege, sagte Emi- lie, in das Gebiet der Räthsel und Wunder. Doch führt uns vielleicht der Versuch, alles umkeh-
Einleitung.
Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen. Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn- ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen, wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be- achteten. So finden wir auch in der alten Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon- dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich- keit hervor.
Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten; auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt des Traumes heraus.
So koͤnnte man denn wohl, unterbrach Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk- lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge- burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre anerkennen wollen.
Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders? fragte Wilibald.
Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant- wortete Ernſt mit neuer Frage.
Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi- lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder. Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0121"n="110"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als<lb/>
Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer<lb/>
wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen.<lb/>
Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie<lb/>
auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn-<lb/>
ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen,<lb/>
wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be-<lb/>
achteten. So finden wir auch in der alten<lb/>
Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon-<lb/>
dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den<lb/>
Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich-<lb/>
keit hervor.</p><lb/><p>Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte<lb/>
Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten;<lb/>
auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die<lb/>
Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem<lb/>
Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt<lb/>
des Traumes heraus.</p><lb/><p>So koͤnnte man denn wohl, unterbrach<lb/>
Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk-<lb/>
lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge-<lb/>
burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre<lb/>
anerkennen wollen.</p><lb/><p>Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders?<lb/>
fragte Wilibald.</p><lb/><p>Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant-<lb/>
wortete Ernſt mit neuer Frage.</p><lb/><p>Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi-<lb/>
lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder.<lb/>
Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[110/0121]
Einleitung.
Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als
Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer
wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen.
Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie
auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn-
ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen,
wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be-
achteten. So finden wir auch in der alten
Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon-
dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den
Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich-
keit hervor.
Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte
Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten;
auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die
Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem
Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt
des Traumes heraus.
So koͤnnte man denn wohl, unterbrach
Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk-
lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge-
burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre
anerkennen wollen.
Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders?
fragte Wilibald.
Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant-
wortete Ernſt mit neuer Frage.
Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi-
lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder.
Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/121>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.