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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
Zustände des Wachens und Schlafens mehr als
Geschwister behandeln, wir würden dann klarer
wachen und bewußtvoller und leichter träumen.
Suchen wir doch am Tage mit der Phantasie
auf diesem Fuße zu leben, und wie viel könn-
ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen,
wenn wir sie als solche mehr achteten und be-
achteten. So finden wir auch in der alten
Welt die Träume nicht so vernachläßigt, son-
dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den
Glauben der Menschen eine glänzende Wirklich-
keit hervor.

Wir träumen ja auch nur die Natur, sagte
Ernst, und möchten diesen Traum ausdeuten;
auf dieselbe Weise entfernt und nahe ist uns die
Schönheit, und so wahrsagen wir auch aus dem
Heiligthum unsers Innern, wie aus einer Welt
des Traumes heraus.

So könnte man denn wohl, unterbrach
Theodor, aus witziger Willkühr mit der Wirk-
lichkeit wie mit Träumen spielen, und die Ge-
burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre
anerkennen wollen.

Thun denn so viele Menschen etwas anders?
fragte Wilibald.

Und thun sie denn so gar unrecht? ant-
wortete Ernst mit neuer Frage.

Wir gerathen auf diesem Wege, sagte Emi-
lie, in das Gebiet der Räthsel und Wunder.
Doch führt uns vielleicht der Versuch, alles umkeh-

Einleitung.
Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als
Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer
wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen.
Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie
auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn-
ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen,
wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be-
achteten. So finden wir auch in der alten
Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon-
dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den
Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich-
keit hervor.

Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte
Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten;
auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die
Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem
Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt
des Traumes heraus.

So koͤnnte man denn wohl, unterbrach
Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk-
lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge-
burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre
anerkennen wollen.

Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders?
fragte Wilibald.

Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant-
wortete Ernſt mit neuer Frage.

Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi-
lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder.
Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh-

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[110/0121] Einleitung. Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen. Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn- ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen, wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be- achteten. So finden wir auch in der alten Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon- dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich- keit hervor. Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten; auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt des Traumes heraus. So koͤnnte man denn wohl, unterbrach Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk- lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge- burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre anerkennen wollen. Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders? fragte Wilibald. Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant- wortete Ernſt mit neuer Frage. Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi- lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder. Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/121>, abgerufen am 22.11.2024.