Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

der Gärtner sprach von mir mit Burton, und
dieser ließ mich in das Schloß bringen, mir ein
Zimmer anweisen, und mich mit Essen und Trin-
ken versorgen. Emilie kannte ich schon etwas
aus vorigen Zeiten, und ich beschloß mit ihr
einen Versuch zu machen. Ich konnte darauf
rechnen, daß sie vorzüglich neugierig war, wer
ich seyn möchte, ich suchte daher ihre Aufmerk-
samkeit noch mehr auf mein stilles, melancholi-
sches Wesen zu richten. Es gelang mir. Ihr
Bruder war an einem Tage abwesend, und ich
sehe sie allein nach dem Garten gehen, und sich
in ihre Lieblingslaube setzen. -- O Rosa! Sie
hat sich wirklich sehr verschönert, seit dem ich
sie nicht gesehen habe; ihr Wuchs ist sehr gra-
ziös, und ihr Auge klug und sanft.

Sie hat einen gewissen Verstand, den sie be-
sonders an sich schätzt; sie hat viele Bücher
gelesen, und manches darüber gedacht, daher ist
sie im Leben ihrer Sache immer sehr ge-
wiß; sie meinet daß es keine kritische Fälle
gebe, in denen man zweifeln könne, wie man
sich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro-
sa, wohl nicht zu sagen, daß diese Geschöpfe
grade am leichtesten zu gewinnen sind, daß sie

der Gaͤrtner ſprach von mir mit Burton, und
dieſer ließ mich in das Schloß bringen, mir ein
Zimmer anweiſen, und mich mit Eſſen und Trin-
ken verſorgen. Emilie kannte ich ſchon etwas
aus vorigen Zeiten, und ich beſchloß mit ihr
einen Verſuch zu machen. Ich konnte darauf
rechnen, daß ſie vorzuͤglich neugierig war, wer
ich ſeyn moͤchte, ich ſuchte daher ihre Aufmerk-
ſamkeit noch mehr auf mein ſtilles, melancholi-
ſches Weſen zu richten. Es gelang mir. Ihr
Bruder war an einem Tage abweſend, und ich
ſehe ſie allein nach dem Garten gehen, und ſich
in ihre Lieblingslaube ſetzen. — O Roſa! Sie
hat ſich wirklich ſehr verſchoͤnert, ſeit dem ich
ſie nicht geſehen habe; ihr Wuchs iſt ſehr gra-
zioͤs, und ihr Auge klug und ſanft.

Sie hat einen gewiſſen Verſtand, den ſie be-
ſonders an ſich ſchaͤtzt; ſie hat viele Buͤcher
geleſen, und manches daruͤber gedacht, daher iſt
ſie im Leben ihrer Sache immer ſehr ge-
wiß; ſie meinet daß es keine kritiſche Faͤlle
gebe, in denen man zweifeln koͤnne, wie man
ſich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro-
ſa, wohl nicht zu ſagen, daß dieſe Geſchoͤpfe
grade am leichteſten zu gewinnen ſind, daß ſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0057" n="50"/>
der Ga&#x0364;rtner &#x017F;prach von mir mit Burton, und<lb/>
die&#x017F;er ließ mich in das Schloß bringen, mir ein<lb/>
Zimmer anwei&#x017F;en, und mich mit E&#x017F;&#x017F;en und Trin-<lb/>
ken ver&#x017F;orgen. Emilie kannte ich &#x017F;chon etwas<lb/>
aus vorigen Zeiten, und ich be&#x017F;chloß mit ihr<lb/>
einen Ver&#x017F;uch zu machen. Ich konnte darauf<lb/>
rechnen, daß &#x017F;ie vorzu&#x0364;glich neugierig war, wer<lb/>
ich &#x017F;eyn mo&#x0364;chte, ich &#x017F;uchte daher ihre Aufmerk-<lb/>
&#x017F;amkeit noch mehr auf mein &#x017F;tilles, melancholi-<lb/>
&#x017F;ches We&#x017F;en zu richten. Es gelang mir. Ihr<lb/>
Bruder war an einem Tage abwe&#x017F;end, und ich<lb/>
&#x017F;ehe &#x017F;ie allein nach dem Garten gehen, und &#x017F;ich<lb/>
in ihre Lieblingslaube &#x017F;etzen. &#x2014; O Ro&#x017F;a! Sie<lb/>
hat &#x017F;ich wirklich &#x017F;ehr ver&#x017F;cho&#x0364;nert, &#x017F;eit dem ich<lb/>
&#x017F;ie nicht ge&#x017F;ehen habe; ihr Wuchs i&#x017F;t &#x017F;ehr gra-<lb/>
zio&#x0364;s, und ihr Auge klug und &#x017F;anft.</p><lb/>
          <p>Sie hat einen gewi&#x017F;&#x017F;en Ver&#x017F;tand, den &#x017F;ie be-<lb/>
&#x017F;onders an &#x017F;ich &#x017F;cha&#x0364;tzt; &#x017F;ie hat viele Bu&#x0364;cher<lb/>
gele&#x017F;en, und manches daru&#x0364;ber gedacht, daher i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ie im Leben ihrer Sache immer &#x017F;ehr ge-<lb/>
wiß; &#x017F;ie meinet daß es keine kriti&#x017F;che Fa&#x0364;lle<lb/>
gebe, in denen man zweifeln ko&#x0364;nne, wie man<lb/>
&#x017F;ich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro-<lb/>
&#x017F;a, wohl nicht zu &#x017F;agen, daß die&#x017F;e Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe<lb/>
grade am leichte&#x017F;ten zu gewinnen &#x017F;ind, daß &#x017F;ie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0057] der Gaͤrtner ſprach von mir mit Burton, und dieſer ließ mich in das Schloß bringen, mir ein Zimmer anweiſen, und mich mit Eſſen und Trin- ken verſorgen. Emilie kannte ich ſchon etwas aus vorigen Zeiten, und ich beſchloß mit ihr einen Verſuch zu machen. Ich konnte darauf rechnen, daß ſie vorzuͤglich neugierig war, wer ich ſeyn moͤchte, ich ſuchte daher ihre Aufmerk- ſamkeit noch mehr auf mein ſtilles, melancholi- ſches Weſen zu richten. Es gelang mir. Ihr Bruder war an einem Tage abweſend, und ich ſehe ſie allein nach dem Garten gehen, und ſich in ihre Lieblingslaube ſetzen. — O Roſa! Sie hat ſich wirklich ſehr verſchoͤnert, ſeit dem ich ſie nicht geſehen habe; ihr Wuchs iſt ſehr gra- zioͤs, und ihr Auge klug und ſanft. Sie hat einen gewiſſen Verſtand, den ſie be- ſonders an ſich ſchaͤtzt; ſie hat viele Buͤcher geleſen, und manches daruͤber gedacht, daher iſt ſie im Leben ihrer Sache immer ſehr ge- wiß; ſie meinet daß es keine kritiſche Faͤlle gebe, in denen man zweifeln koͤnne, wie man ſich zu betragen habe. Ich brauche Ihnen, Ro- ſa, wohl nicht zu ſagen, daß dieſe Geſchoͤpfe grade am leichteſten zu gewinnen ſind, daß ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/57
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/57>, abgerufen am 30.04.2024.