Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

wir von dem Wege abweichen, von dem man
sagt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe.
Aber eben von diesem unsichtbaren Dinge, oder
sogenanntem Gewissen konnt' ich mich nie
überzeugen. Es giebt mehrere dergleichen fabel-
hafte Traditionen beym Menschengeschlechte,
wodurch der größte Theil desselben wirklich in
einer gewissen Furcht gehalten wird, die man-
chen in müßigen Stunden, wenn er nicht zu
sehr gedrängt und getrieben wird, tugendhaft
machen; es sind die philosophischen Nebenstun-
den, auf Schreibpapier gedruckt und mit
Vignetten verziert. Ich beschloß, es mit die-
ser unsichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr
nicht minder, als dem gewöhnlichen Gerede,
das man unter dem Namen Grundsätze so
oft ablesen hört, Trotz zu bieten, und bis jetzt
habe ich keinen Anstoß, keinen innern Ruf be-
merkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im
Wege lag, mitnahm: es sind mannigfaltige
Sünden von mir begangen worden, aber bis
jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. --
So hatte sich nach und nach das Ideal eines
Menschen verändert, das ich mit ungeübtem
Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich

wir von dem Wege abweichen, von dem man
ſagt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe.
Aber eben von dieſem unſichtbaren Dinge, oder
ſogenanntem Gewiſſen konnt' ich mich nie
uͤberzeugen. Es giebt mehrere dergleichen fabel-
hafte Traditionen beym Menſchengeſchlechte,
wodurch der groͤßte Theil deſſelben wirklich in
einer gewiſſen Furcht gehalten wird, die man-
chen in muͤßigen Stunden, wenn er nicht zu
ſehr gedraͤngt und getrieben wird, tugendhaft
machen; es ſind die philoſophiſchen Nebenſtun-
den, auf Schreibpapier gedruckt und mit
Vignetten verziert. Ich beſchloß, es mit die-
ſer unſichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr
nicht minder, als dem gewoͤhnlichen Gerede,
das man unter dem Namen Grundſaͤtze ſo
oft ableſen hoͤrt, Trotz zu bieten, und bis jetzt
habe ich keinen Anſtoß, keinen innern Ruf be-
merkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im
Wege lag, mitnahm: es ſind mannigfaltige
Suͤnden von mir begangen worden, aber bis
jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. —
So hatte ſich nach und nach das Ideal eines
Menſchen veraͤndert, das ich mit ungeuͤbtem
Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0448" n="441"/>
wir von dem Wege abweichen, von dem man<lb/>
&#x017F;agt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe.<lb/>
Aber eben von die&#x017F;em un&#x017F;ichtbaren Dinge, oder<lb/>
&#x017F;ogenanntem <hi rendition="#g">Gewi&#x017F;&#x017F;en</hi> konnt' ich mich nie<lb/>
u&#x0364;berzeugen. Es giebt mehrere dergleichen fabel-<lb/>
hafte Traditionen beym Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechte,<lb/>
wodurch der gro&#x0364;ßte Theil de&#x017F;&#x017F;elben wirklich in<lb/>
einer gewi&#x017F;&#x017F;en Furcht gehalten wird, die man-<lb/>
chen in mu&#x0364;ßigen Stunden, wenn er nicht zu<lb/>
&#x017F;ehr gedra&#x0364;ngt und getrieben wird, tugendhaft<lb/>
machen; es &#x017F;ind die philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Neben&#x017F;tun-<lb/>
den, auf Schreibpapier gedruckt und mit<lb/>
Vignetten verziert. Ich be&#x017F;chloß, es mit die-<lb/>
&#x017F;er un&#x017F;ichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr<lb/>
nicht minder, als dem gewo&#x0364;hnlichen Gerede,<lb/>
das man unter dem Namen <hi rendition="#g">Grund&#x017F;a&#x0364;tze</hi> &#x017F;o<lb/>
oft able&#x017F;en ho&#x0364;rt, Trotz zu bieten, und bis jetzt<lb/>
habe ich keinen An&#x017F;toß, keinen innern Ruf be-<lb/>
merkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im<lb/>
Wege lag, mitnahm: es &#x017F;ind mannigfaltige<lb/>
Su&#x0364;nden von mir begangen worden, aber bis<lb/>
jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. &#x2014;<lb/>
So hatte &#x017F;ich nach und nach das Ideal eines<lb/>
Men&#x017F;chen vera&#x0364;ndert, das ich mit ungeu&#x0364;btem<lb/>
Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[441/0448] wir von dem Wege abweichen, von dem man ſagt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe. Aber eben von dieſem unſichtbaren Dinge, oder ſogenanntem Gewiſſen konnt' ich mich nie uͤberzeugen. Es giebt mehrere dergleichen fabel- hafte Traditionen beym Menſchengeſchlechte, wodurch der groͤßte Theil deſſelben wirklich in einer gewiſſen Furcht gehalten wird, die man- chen in muͤßigen Stunden, wenn er nicht zu ſehr gedraͤngt und getrieben wird, tugendhaft machen; es ſind die philoſophiſchen Nebenſtun- den, auf Schreibpapier gedruckt und mit Vignetten verziert. Ich beſchloß, es mit die- ſer unſichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr nicht minder, als dem gewoͤhnlichen Gerede, das man unter dem Namen Grundſaͤtze ſo oft ableſen hoͤrt, Trotz zu bieten, und bis jetzt habe ich keinen Anſtoß, keinen innern Ruf be- merkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im Wege lag, mitnahm: es ſind mannigfaltige Suͤnden von mir begangen worden, aber bis jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. — So hatte ſich nach und nach das Ideal eines Menſchen veraͤndert, das ich mit ungeuͤbtem Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/448
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/448>, abgerufen am 18.05.2024.