Je länger ich hier bin und je mehr ich über Andrea nachdenke, je seltsamer, ich möchte sagen, je alberner kömmt er mir vor. Es fü- gen sich in meinem Gedächtnisse erst jetzt so manche Züge zusammen, die mir bedeutender als damals erscheinen. Es ist für mich schwer einen Menschen zu beurtheilen, so lange ich ihn vor mir sehe, so lange seine Freundschafts- bezengungen, seine Aufmerksamkeit für mich meine eigene Aufmerksamkeit bestechen. Ich muß Ihnen gestehn, daß ich mir jetzt nichts Lächerlicheres denken kann, als irgend eine ge- heime Gesellschaft mit großen Anstalten und tief angelegten Entwürfen; ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich mich vor diesem Gedanken ir- gend einmal fürchten konnte. Ich kann es nicht unterlassen, die Menschen jetzt zu verachten, die sich so ernsthaft in die Mitte der Welt hinstellen, und dann verlangen können, man soll
11. Adriano an Francesko.
Florenz.
Je laͤnger ich hier bin und je mehr ich uͤber Andrea nachdenke, je ſeltſamer, ich moͤchte ſagen, je alberner koͤmmt er mir vor. Es fuͤ- gen ſich in meinem Gedaͤchtniſſe erſt jetzt ſo manche Zuͤge zuſammen, die mir bedeutender als damals erſcheinen. Es iſt fuͤr mich ſchwer einen Menſchen zu beurtheilen, ſo lange ich ihn vor mir ſehe, ſo lange ſeine Freundſchafts- bezengungen, ſeine Aufmerkſamkeit fuͤr mich meine eigene Aufmerkſamkeit beſtechen. Ich muß Ihnen geſtehn, daß ich mir jetzt nichts Laͤcherlicheres denken kann, als irgend eine ge- heime Geſellſchaft mit großen Anſtalten und tief angelegten Entwuͤrfen; ich begreife jetzt ſelbſt nicht, wie ich mich vor dieſem Gedanken ir- gend einmal fuͤrchten konnte. Ich kann es nicht unterlaſſen, die Menſchen jetzt zu verachten, die ſich ſo ernſthaft in die Mitte der Welt hinſtellen, und dann verlangen koͤnnen, man ſoll
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0363"n="356"/><divn="2"><head>11.<lb/><hirendition="#g">Adriano an Francesko</hi>.</head><lb/><dateline><hirendition="#et"><hirendition="#g">Florenz</hi>.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>e laͤnger ich hier bin und je mehr ich uͤber<lb/>
Andrea nachdenke, je ſeltſamer, ich moͤchte<lb/>ſagen, je alberner koͤmmt er mir vor. Es fuͤ-<lb/>
gen ſich in meinem Gedaͤchtniſſe erſt jetzt ſo<lb/>
manche Zuͤge zuſammen, die mir bedeutender<lb/>
als damals erſcheinen. Es iſt fuͤr mich ſchwer<lb/>
einen Menſchen zu beurtheilen, ſo lange ich<lb/>
ihn vor mir ſehe, ſo lange ſeine Freundſchafts-<lb/>
bezengungen, ſeine Aufmerkſamkeit fuͤr mich<lb/>
meine eigene Aufmerkſamkeit beſtechen. Ich<lb/>
muß Ihnen geſtehn, daß ich mir jetzt nichts<lb/>
Laͤcherlicheres denken kann, als irgend eine ge-<lb/>
heime Geſellſchaft mit großen Anſtalten und tief<lb/>
angelegten Entwuͤrfen; ich begreife jetzt ſelbſt<lb/>
nicht, wie ich mich vor dieſem Gedanken ir-<lb/>
gend einmal fuͤrchten konnte. Ich kann es nicht<lb/>
unterlaſſen, die Menſchen jetzt zu verachten,<lb/>
die ſich ſo ernſthaft in die Mitte der Welt<lb/>
hinſtellen, und dann verlangen koͤnnen, man ſoll<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[356/0363]
11.
Adriano an Francesko.
Florenz.
Je laͤnger ich hier bin und je mehr ich uͤber
Andrea nachdenke, je ſeltſamer, ich moͤchte
ſagen, je alberner koͤmmt er mir vor. Es fuͤ-
gen ſich in meinem Gedaͤchtniſſe erſt jetzt ſo
manche Zuͤge zuſammen, die mir bedeutender
als damals erſcheinen. Es iſt fuͤr mich ſchwer
einen Menſchen zu beurtheilen, ſo lange ich
ihn vor mir ſehe, ſo lange ſeine Freundſchafts-
bezengungen, ſeine Aufmerkſamkeit fuͤr mich
meine eigene Aufmerkſamkeit beſtechen. Ich
muß Ihnen geſtehn, daß ich mir jetzt nichts
Laͤcherlicheres denken kann, als irgend eine ge-
heime Geſellſchaft mit großen Anſtalten und tief
angelegten Entwuͤrfen; ich begreife jetzt ſelbſt
nicht, wie ich mich vor dieſem Gedanken ir-
gend einmal fuͤrchten konnte. Ich kann es nicht
unterlaſſen, die Menſchen jetzt zu verachten,
die ſich ſo ernſthaft in die Mitte der Welt
hinſtellen, und dann verlangen koͤnnen, man ſoll
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/363>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.