ner bejammernswürdigen Feigheit ihr Leben nicht zu genießen wagen, die sich von unaufhör- lichen Zweifeln tyrannisiren lassen und wie Tan- talus mitten im Ueberflusse schmachten; oder die sich von den Schätzen der lebendigen Natur mit Verachtung hinwegwenden, um eine dürre Klippe zu besteigen, wo sie sich dem Himmel näher dünken. Aber dort oben stehn sie verlas- sen; Felsenwände, die kein sterblicher Arm hin- wegrücken wird, begränzen ihre Aussicht; -- um den Göttern ähnlich zu werden sterben sie, ohne gelebt zu haben. -- Nein Rosa, hinweg mit diesem trostlosen Stolze! -- Ich begnüge mich mit der Empfindung, ein Mensch zu seyn; rasch entflieht das Leben, wehe dem, der vom irrdischen Schlafe erwacht, ohne angenehm ge- träumt zu haben, denn wüste und dunkel ist die Zukunft.
Seit ich an diesem Glauben hange, lacht mir der Himmel freundlicher, jede Blume duf- tet mir süßer, jeder Ton klingt melodischer; die ganze Welt betrachte ich als mein Eigenthum, jede Schönheit gehört mir, indem ich sie verste- he. So muß der freie Mensch durch die Natur wandeln, ein König der Schöpfung, das edelste
ner bejammernswuͤrdigen Feigheit ihr Leben nicht zu genießen wagen, die ſich von unaufhoͤr- lichen Zweifeln tyranniſiren laſſen und wie Tan- talus mitten im Ueberfluſſe ſchmachten; oder die ſich von den Schaͤtzen der lebendigen Natur mit Verachtung hinwegwenden, um eine duͤrre Klippe zu beſteigen, wo ſie ſich dem Himmel naͤher duͤnken. Aber dort oben ſtehn ſie verlaſ- ſen; Felſenwaͤnde, die kein ſterblicher Arm hin- wegruͤcken wird, begraͤnzen ihre Ausſicht; — um den Goͤttern aͤhnlich zu werden ſterben ſie, ohne gelebt zu haben. — Nein Roſa, hinweg mit dieſem troſtloſen Stolze! — Ich begnuͤge mich mit der Empfindung, ein Menſch zu ſeyn; raſch entflieht das Leben, wehe dem, der vom irrdiſchen Schlafe erwacht, ohne angenehm ge- traͤumt zu haben, denn wuͤſte und dunkel iſt die Zukunft.
Seit ich an dieſem Glauben hange, lacht mir der Himmel freundlicher, jede Blume duf- tet mir ſuͤßer, jeder Ton klingt melodiſcher; die ganze Welt betrachte ich als mein Eigenthum, jede Schoͤnheit gehoͤrt mir, indem ich ſie verſte- he. So muß der freie Menſch durch die Natur wandeln, ein Koͤnig der Schoͤpfung, das edelſte
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ner bejammernswuͤrdigen Feigheit ihr Leben
nicht zu genießen wagen, die ſich von unaufhoͤr-
lichen Zweifeln tyranniſiren laſſen und wie Tan-
talus mitten im Ueberfluſſe ſchmachten; oder
die ſich von den Schaͤtzen der lebendigen Natur
mit Verachtung hinwegwenden, um eine duͤrre
Klippe zu beſteigen, wo ſie ſich dem Himmel
naͤher duͤnken. Aber dort oben ſtehn ſie verlaſ-
ſen; Felſenwaͤnde, die kein ſterblicher Arm hin-
wegruͤcken wird, begraͤnzen ihre Ausſicht; —
um den Goͤttern aͤhnlich zu werden ſterben ſie,
ohne gelebt zu haben. — Nein Roſa, hinweg
mit dieſem troſtloſen Stolze! — Ich begnuͤge
mich mit der Empfindung, ein Menſch zu ſeyn;
raſch entflieht das Leben, wehe dem, der vom
irrdiſchen Schlafe erwacht, ohne angenehm ge-
traͤumt zu haben, denn wuͤſte und dunkel iſt die
Zukunft.
Seit ich an dieſem Glauben hange, lacht
mir der Himmel freundlicher, jede Blume duf-
tet mir ſuͤßer, jeder Ton klingt melodiſcher; die
ganze Welt betrachte ich als mein Eigenthum,
jede Schoͤnheit gehoͤrt mir, indem ich ſie verſte-
he. So muß der freie Menſch durch die Natur
wandeln, ein Koͤnig der Schoͤpfung, das edelſte
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 297[295]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/305>, abgerufen am 25.11.2024.
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