schritten, o so könnten wir freilich jenem glän- zenden Ziele schon ungleich näher seyn, das uns nur noch an der Gränze des Horizontes schim- mert und dessen Daseyn daher der Kurzsichtige läugnet.
Und glaubst Du denn nicht, daß uns jene Trümmern nicht vielleicht einen schönern Tem- pel versprechen, als wirklich auf jener Stelle stand? Es ist schwer die Vergangenheit nicht in einem falschen Lichte zu sehn, denn die Phan- tasie hat zum Idealisiren ganz freien Spiel- raum, unsre Lieblingsträume pflanzen wir in Zeiten, bei denen wir eine Vorliebe empfinden und so blüht nach und nach ein Garten auf, der die häßlichen Theile der Landschaft mit sei- nen angenehmen Schatten verdeckt, -- aber laß Dir die Wahrheit lieber seyn, als diesen magischen Betrug. -- Es gab in allen Zeiten große Menschen, es gab von jeher verächtliche Wesen: die Schlange saugt auch aus Blumen Gift; einige Menschen verstehn ewig nicht die Größe ihrer Bestimmung, diese kriechen stets im Staube, sie kennen die Sonnenstrahlen nicht. Laß die Menschheit nicht die Verächtlichkeit dieser büßen, oder Du bist in Deinem Eifer ungerecht.
ſchritten, o ſo koͤnnten wir freilich jenem glaͤn- zenden Ziele ſchon ungleich naͤher ſeyn, das uns nur noch an der Graͤnze des Horizontes ſchim- mert und deſſen Daſeyn daher der Kurzſichtige laͤugnet.
Und glaubſt Du denn nicht, daß uns jene Truͤmmern nicht vielleicht einen ſchoͤnern Tem- pel verſprechen, als wirklich auf jener Stelle ſtand? Es iſt ſchwer die Vergangenheit nicht in einem falſchen Lichte zu ſehn, denn die Phan- taſie hat zum Idealiſiren ganz freien Spiel- raum, unſre Lieblingstraͤume pflanzen wir in Zeiten, bei denen wir eine Vorliebe empfinden und ſo bluͤht nach und nach ein Garten auf, der die haͤßlichen Theile der Landſchaft mit ſei- nen angenehmen Schatten verdeckt, — aber laß Dir die Wahrheit lieber ſeyn, als dieſen magiſchen Betrug. — Es gab in allen Zeiten große Menſchen, es gab von jeher veraͤchtliche Weſen: die Schlange ſaugt auch aus Blumen Gift; einige Menſchen verſtehn ewig nicht die Groͤße ihrer Beſtimmung, dieſe kriechen ſtets im Staube, ſie kennen die Sonnenſtrahlen nicht. Laß die Menſchheit nicht die Veraͤchtlichkeit dieſer buͤßen, oder Du biſt in Deinem Eifer ungerecht.
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[102[100]/0110]
ſchritten, o ſo koͤnnten wir freilich jenem glaͤn-
zenden Ziele ſchon ungleich naͤher ſeyn, das uns
nur noch an der Graͤnze des Horizontes ſchim-
mert und deſſen Daſeyn daher der Kurzſichtige
laͤugnet.
Und glaubſt Du denn nicht, daß uns jene
Truͤmmern nicht vielleicht einen ſchoͤnern Tem-
pel verſprechen, als wirklich auf jener Stelle
ſtand? Es iſt ſchwer die Vergangenheit nicht
in einem falſchen Lichte zu ſehn, denn die Phan-
taſie hat zum Idealiſiren ganz freien Spiel-
raum, unſre Lieblingstraͤume pflanzen wir in
Zeiten, bei denen wir eine Vorliebe empfinden
und ſo bluͤht nach und nach ein Garten auf,
der die haͤßlichen Theile der Landſchaft mit ſei-
nen angenehmen Schatten verdeckt, — aber
laß Dir die Wahrheit lieber ſeyn, als dieſen
magiſchen Betrug. — Es gab in allen Zeiten
große Menſchen, es gab von jeher veraͤchtliche
Weſen: die Schlange ſaugt auch aus Blumen
Gift; einige Menſchen verſtehn ewig nicht die
Groͤße ihrer Beſtimmung, dieſe kriechen ſtets im
Staube, ſie kennen die Sonnenſtrahlen nicht.
Laß die Menſchheit nicht die Veraͤchtlichkeit
dieſer buͤßen, oder Du biſt in Deinem Eifer
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 102[100]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/110>, abgerufen am 22.11.2024.
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