Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.So erfahren wir es im Leben selbst, so sind die Begebenheiten, die uns, von Bekannten aus ihrer Erfahrung mitgetheilt, den tiefsten und bleibendsten Eindruck machen." Ein Beispiel dieses natürlich Wunderbaren, das ihm an die Stelle des romantischen Wunders getreten ist, findet er in der Novelle der Goethe'schen Ausgewanderten von dem leichtsinnigen Sohne, der durch den aufspringenden Schreibtisch seines Vaters (Tieck sagt in der Zerstreuung "Ladentisch", wodurch die Sache bedeutend unerbaulicher würde) zu schlimmen Griffen verleitet wird. Eine ähnlich wunderbare Fügung stellt auch er gleich in seiner ersten Novelle "Die Gemälde" dar, indem dort die verloren geglaubten Kunstschätze durch einen ungemein sinnig angelegten Zufall wieder zu Tage gebracht werden und das Glück des Helden, eines jungen Mannes von freilich etwas zweifelhaftem Charakter, wieder herstellen. Diesen Umschlag, der keineswegs immer von außen kommen muß, sondern oft nur eine plötzliche eigenthümliche Wendung des Gemüthes sein kann, in welcher eine ursprüngliche Anlage hervorbricht, hat Tieck in den meisten seiner Novellen, jedoch mit sehr ungleichem Glücke durchgeführt. Aber nicht nur ist der Kern derselben von ungleichem Werth, sondern sie leiden auch fast ohne Ausnahme, auch die besseren, an dem gleichen Fehler. Fast nirgends kommt es zu einer vollen runden Gestaltung, die Figuren haben fast alle etwas Schattenhaftes, sie thun gelegentlich dieses oder jenes, aber meist ziehen sie es vor, sich gegen einander auszusprechen. Und in diesem übermäßigen Gespräche, das die eigentliche Handlung vertritt, ja oft die ganze Handlung ist, führt der Dichter beständig durch den Mund seiner Personen mit wohlbekannter Stimme selbst das Wort. Hoch und Niedrig bekunden die gleiche Culturstufe; die mittelalterlichen Figuren So erfahren wir es im Leben selbst, so sind die Begebenheiten, die uns, von Bekannten aus ihrer Erfahrung mitgetheilt, den tiefsten und bleibendsten Eindruck machen.“ Ein Beispiel dieses natürlich Wunderbaren, das ihm an die Stelle des romantischen Wunders getreten ist, findet er in der Novelle der Goethe'schen Ausgewanderten von dem leichtsinnigen Sohne, der durch den aufspringenden Schreibtisch seines Vaters (Tieck sagt in der Zerstreuung „Ladentisch“, wodurch die Sache bedeutend unerbaulicher würde) zu schlimmen Griffen verleitet wird. Eine ähnlich wunderbare Fügung stellt auch er gleich in seiner ersten Novelle „Die Gemälde“ dar, indem dort die verloren geglaubten Kunstschätze durch einen ungemein sinnig angelegten Zufall wieder zu Tage gebracht werden und das Glück des Helden, eines jungen Mannes von freilich etwas zweifelhaftem Charakter, wieder herstellen. Diesen Umschlag, der keineswegs immer von außen kommen muß, sondern oft nur eine plötzliche eigenthümliche Wendung des Gemüthes sein kann, in welcher eine ursprüngliche Anlage hervorbricht, hat Tieck in den meisten seiner Novellen, jedoch mit sehr ungleichem Glücke durchgeführt. Aber nicht nur ist der Kern derselben von ungleichem Werth, sondern sie leiden auch fast ohne Ausnahme, auch die besseren, an dem gleichen Fehler. Fast nirgends kommt es zu einer vollen runden Gestaltung, die Figuren haben fast alle etwas Schattenhaftes, sie thun gelegentlich dieses oder jenes, aber meist ziehen sie es vor, sich gegen einander auszusprechen. Und in diesem übermäßigen Gespräche, das die eigentliche Handlung vertritt, ja oft die ganze Handlung ist, führt der Dichter beständig durch den Mund seiner Personen mit wohlbekannter Stimme selbst das Wort. Hoch und Niedrig bekunden die gleiche Culturstufe; die mittelalterlichen Figuren <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0007"/> So erfahren wir es im Leben selbst, so sind die Begebenheiten, die uns, von Bekannten aus ihrer Erfahrung mitgetheilt, den tiefsten und bleibendsten Eindruck machen.“</p><lb/> <p>Ein Beispiel dieses natürlich Wunderbaren, das ihm an die Stelle des romantischen Wunders getreten ist, findet er in der Novelle der Goethe'schen Ausgewanderten von dem leichtsinnigen Sohne, der durch den aufspringenden Schreibtisch seines Vaters (Tieck sagt in der Zerstreuung „Ladentisch“, wodurch die Sache bedeutend unerbaulicher würde) zu schlimmen Griffen verleitet wird. Eine ähnlich wunderbare Fügung stellt auch er gleich in seiner ersten Novelle „Die Gemälde“ dar, indem dort die verloren geglaubten Kunstschätze durch einen ungemein sinnig angelegten Zufall wieder zu Tage gebracht werden und das Glück des Helden, eines jungen Mannes von freilich etwas zweifelhaftem Charakter, wieder herstellen.</p><lb/> <p>Diesen Umschlag, der keineswegs immer von außen kommen muß, sondern oft nur eine plötzliche eigenthümliche Wendung des Gemüthes sein kann, in welcher eine ursprüngliche Anlage hervorbricht, hat Tieck in den meisten seiner Novellen, jedoch mit sehr ungleichem Glücke durchgeführt. Aber nicht nur ist der Kern derselben von ungleichem Werth, sondern sie leiden auch fast ohne Ausnahme, auch die besseren, an dem gleichen Fehler. Fast nirgends kommt es zu einer vollen runden Gestaltung, die Figuren haben fast alle etwas Schattenhaftes, sie thun gelegentlich dieses oder jenes, aber meist ziehen sie es vor, sich gegen einander auszusprechen. 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So erfahren wir es im Leben selbst, so sind die Begebenheiten, die uns, von Bekannten aus ihrer Erfahrung mitgetheilt, den tiefsten und bleibendsten Eindruck machen.“
Ein Beispiel dieses natürlich Wunderbaren, das ihm an die Stelle des romantischen Wunders getreten ist, findet er in der Novelle der Goethe'schen Ausgewanderten von dem leichtsinnigen Sohne, der durch den aufspringenden Schreibtisch seines Vaters (Tieck sagt in der Zerstreuung „Ladentisch“, wodurch die Sache bedeutend unerbaulicher würde) zu schlimmen Griffen verleitet wird. Eine ähnlich wunderbare Fügung stellt auch er gleich in seiner ersten Novelle „Die Gemälde“ dar, indem dort die verloren geglaubten Kunstschätze durch einen ungemein sinnig angelegten Zufall wieder zu Tage gebracht werden und das Glück des Helden, eines jungen Mannes von freilich etwas zweifelhaftem Charakter, wieder herstellen.
Diesen Umschlag, der keineswegs immer von außen kommen muß, sondern oft nur eine plötzliche eigenthümliche Wendung des Gemüthes sein kann, in welcher eine ursprüngliche Anlage hervorbricht, hat Tieck in den meisten seiner Novellen, jedoch mit sehr ungleichem Glücke durchgeführt. Aber nicht nur ist der Kern derselben von ungleichem Werth, sondern sie leiden auch fast ohne Ausnahme, auch die besseren, an dem gleichen Fehler. Fast nirgends kommt es zu einer vollen runden Gestaltung, die Figuren haben fast alle etwas Schattenhaftes, sie thun gelegentlich dieses oder jenes, aber meist ziehen sie es vor, sich gegen einander auszusprechen. Und in diesem übermäßigen Gespräche, das die eigentliche Handlung vertritt, ja oft die ganze Handlung ist, führt der Dichter beständig durch den Mund seiner Personen mit wohlbekannter Stimme selbst das Wort. Hoch und Niedrig bekunden die gleiche Culturstufe; die mittelalterlichen Figuren
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Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_gemaelde_1910/7>, abgerufen am 27.07.2024. |