Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Schädel, und dieser Ausdruck des Leidens erhöhte nur die Schönheit. Gegenüber war eine Lucretia von demselben Meister, die sich mit starkem vollen Arm den Dolch in den schönen Busen stieß. In diesem Bilde war der Ausdruck groß und kräftig, die Farbe unvergleichlich. Eine Mutter, die dem schlafenden Kinde das Tuch vom nackten Körper nimmt, und Joseph und Johannes den Schläfer betrachtend, die Figuren lebensgroß , waren von einem alten römischen Meister so herrlich und graziös dargestellt, daß jede Beschreibung nur unzulänglich ist. Aber wohl möchte ich Worte suchen, um auch nur eine schwache Vorstellung von dem einzigen Van Eyck zu geben, einer Verkündigung, welche doch vielleicht die Krone der Sammlung war. Hat sich die Farbe je als eine Tochter des Himmels verherrlicht, ist mit Licht und Schatten jemals gespielt und im Spiel die edelste Rührung der Seele erweckt worden, haben Lust, Begeisterung, Poesie und Wahrheit und Adel sich je in Figuren und Färbung auf eine Tafel gelegt, so war es in diesem Bilde geschehen, welches mehr als Malerei und Zauber war. Ich muß abbrechen, um mich nicht selbst zu vergessen. Diese Bilder waren die vorzüglichsten; aber ein Hemling, ein herrlicher Annibal Carracci, ein kleines Bild, Christus zwischen den Kriegsknechten, eine Venus, vielleicht von Titian, wären wohl noch der Erwähnung werth, und kein Bild war in diesem Cabinet, das nicht jeden Freund der Kunst beglückt hätte. Und, denken Sie, fassen Sie die Sonder- Schädel, und dieser Ausdruck des Leidens erhöhte nur die Schönheit. Gegenüber war eine Lucretia von demselben Meister, die sich mit starkem vollen Arm den Dolch in den schönen Busen stieß. In diesem Bilde war der Ausdruck groß und kräftig, die Farbe unvergleichlich. Eine Mutter, die dem schlafenden Kinde das Tuch vom nackten Körper nimmt, und Joseph und Johannes den Schläfer betrachtend, die Figuren lebensgroß , waren von einem alten römischen Meister so herrlich und graziös dargestellt, daß jede Beschreibung nur unzulänglich ist. Aber wohl möchte ich Worte suchen, um auch nur eine schwache Vorstellung von dem einzigen Van Eyck zu geben, einer Verkündigung, welche doch vielleicht die Krone der Sammlung war. Hat sich die Farbe je als eine Tochter des Himmels verherrlicht, ist mit Licht und Schatten jemals gespielt und im Spiel die edelste Rührung der Seele erweckt worden, haben Lust, Begeisterung, Poesie und Wahrheit und Adel sich je in Figuren und Färbung auf eine Tafel gelegt, so war es in diesem Bilde geschehen, welches mehr als Malerei und Zauber war. Ich muß abbrechen, um mich nicht selbst zu vergessen. Diese Bilder waren die vorzüglichsten; aber ein Hemling, ein herrlicher Annibal Carracci, ein kleines Bild, Christus zwischen den Kriegsknechten, eine Venus, vielleicht von Titian, wären wohl noch der Erwähnung werth, und kein Bild war in diesem Cabinet, das nicht jeden Freund der Kunst beglückt hätte. Und, denken Sie, fassen Sie die Sonder- <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0049"/> Schädel, und dieser Ausdruck des Leidens erhöhte nur die Schönheit. Gegenüber war eine Lucretia von demselben Meister, die sich mit starkem vollen Arm den Dolch in den schönen Busen stieß. In diesem Bilde war der Ausdruck groß und kräftig, die Farbe unvergleichlich. Eine Mutter, die dem schlafenden Kinde das Tuch vom nackten Körper nimmt, und Joseph und Johannes den Schläfer betrachtend, die Figuren lebensgroß , waren von einem alten römischen Meister so herrlich und graziös dargestellt, daß jede Beschreibung nur unzulänglich ist. Aber wohl möchte ich Worte suchen, um auch nur eine schwache Vorstellung von dem einzigen Van Eyck zu geben, einer Verkündigung, welche doch vielleicht die Krone der Sammlung war. Hat sich die Farbe je als eine Tochter des Himmels verherrlicht, ist mit Licht und Schatten jemals gespielt und im Spiel die edelste Rührung der Seele erweckt worden, haben Lust, Begeisterung, Poesie und Wahrheit und Adel sich je in Figuren und Färbung auf eine Tafel gelegt, so war es in diesem Bilde geschehen, welches mehr als Malerei und Zauber war. Ich muß abbrechen, um mich nicht selbst zu vergessen. Diese Bilder waren die vorzüglichsten; aber ein Hemling, ein herrlicher Annibal Carracci, ein kleines Bild, Christus zwischen den Kriegsknechten, eine Venus, vielleicht von Titian, wären wohl noch der Erwähnung werth, und kein Bild war in diesem Cabinet, das nicht jeden Freund der Kunst beglückt hätte. Und, denken Sie, fassen Sie die Sonder-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0049]
Schädel, und dieser Ausdruck des Leidens erhöhte nur die Schönheit. Gegenüber war eine Lucretia von demselben Meister, die sich mit starkem vollen Arm den Dolch in den schönen Busen stieß. In diesem Bilde war der Ausdruck groß und kräftig, die Farbe unvergleichlich. Eine Mutter, die dem schlafenden Kinde das Tuch vom nackten Körper nimmt, und Joseph und Johannes den Schläfer betrachtend, die Figuren lebensgroß , waren von einem alten römischen Meister so herrlich und graziös dargestellt, daß jede Beschreibung nur unzulänglich ist. Aber wohl möchte ich Worte suchen, um auch nur eine schwache Vorstellung von dem einzigen Van Eyck zu geben, einer Verkündigung, welche doch vielleicht die Krone der Sammlung war. Hat sich die Farbe je als eine Tochter des Himmels verherrlicht, ist mit Licht und Schatten jemals gespielt und im Spiel die edelste Rührung der Seele erweckt worden, haben Lust, Begeisterung, Poesie und Wahrheit und Adel sich je in Figuren und Färbung auf eine Tafel gelegt, so war es in diesem Bilde geschehen, welches mehr als Malerei und Zauber war. Ich muß abbrechen, um mich nicht selbst zu vergessen. Diese Bilder waren die vorzüglichsten; aber ein Hemling, ein herrlicher Annibal Carracci, ein kleines Bild, Christus zwischen den Kriegsknechten, eine Venus, vielleicht von Titian, wären wohl noch der Erwähnung werth, und kein Bild war in diesem Cabinet, das nicht jeden Freund der Kunst beglückt hätte. Und, denken Sie, fassen Sie die Sonder-
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Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_gemaelde_1910/49>, abgerufen am 27.07.2024. |