Einige Tempel sind vor andern besonders merk- würdig, und zu solchen werden auch aus allen Provin- zen des Reichs Wallfahrten, wie von den Muhamme- danern nach Mekka, angestellt. Von dieser Art ist vorzüglich der Tempel Isie. Dieser ist dem ältesten Gotte des Landes, oder dem höchsten himmlischen Gotte, Ten- sio Dai Sin, geweihet, und der älteste im ganzen Lande, aber auch der unansehnlichste, und jetzt vor Alter dermaßen verfallen, daß er mit der größten Sorg- falt kaum noch vor dem völligen Einsturze geschützt wer- den kann. In demselben findet sich nur ein Spiegel und an den Wänden hie und da einige Streifen weissen Papiers aufgehängt, welches anzeigen soll, daß kein Unreiner sich dem Gotte nähern, oder ihm gefallen kann, und daß das allsehende Auge alles sieht. Der Kaiser, welcher diesen Tempel nicht in eigner Person besuchen kann, fertigt jährlich im ersten Monathe eine Gesandschaft dahin ab. Alle Unterthanen, weß Al- ters oder Geschlechts sie seyn mögen, sind schuldig, wenigstens Einmal in ihrem Leben, eine Reise hieher zu machen; viele machen sie alle Jahr. Die Vornehmen kommen gleichwohl selten hin; sie maßen sich, hier wie andrer Orten, ihre besonderen Privilegien an, die mehr der Bequemlichkeit als dem was sie thun sollten an- gemessen sind. Diese Wallfahrten können zu jeder Zeit geschehen, gemeiniglich aber werden sie in der schönsten Jahrszeit, in den Frühlingsmonathen, verrichtet. Eine solche Wallfahrt gethan haben, ist verdienstlich, und wirkt dem Pilgrim einen Ablaß für das ganze Jahr. Auf meiner Reise nach Jedo, sah ich dergleichen Pilgrimme zu Tausenden; oft waren sie so arm, daß sie unterweges ihr Brod betteln mußten. Diese arme Leute trugen nach Landessitte
Erſte Abtheilung. Zweyter Abſchnitt.
Einige Tempel ſind vor andern beſonders merk- wuͤrdig, und zu ſolchen werden auch aus allen Provin- zen des Reichs Wallfahrten, wie von den Muhamme- danern nach Mekka, angeſtellt. Von dieſer Art iſt vorzuͤglich der Tempel Iſie. Dieſer iſt dem aͤlteſten Gotte des Landes, oder dem hoͤchſten himmliſchen Gotte, Ten- ſio Dai Sin, geweihet, und der aͤlteſte im ganzen Lande, aber auch der unanſehnlichſte, und jetzt vor Alter dermaßen verfallen, daß er mit der groͤßten Sorg- falt kaum noch vor dem voͤlligen Einſturze geſchuͤtzt wer- den kann. In demſelben findet ſich nur ein Spiegel und an den Waͤnden hie und da einige Streifen weiſſen Papiers aufgehaͤngt, welches anzeigen ſoll, daß kein Unreiner ſich dem Gotte naͤhern, oder ihm gefallen kann, und daß das allſehende Auge alles ſieht. Der Kaiſer, welcher dieſen Tempel nicht in eigner Perſon beſuchen kann, fertigt jaͤhrlich im erſten Monathe eine Geſandſchaft dahin ab. Alle Unterthanen, weß Al- ters oder Geſchlechts ſie ſeyn moͤgen, ſind ſchuldig, wenigſtens Einmal in ihrem Leben, eine Reiſe hieher zu machen; viele machen ſie alle Jahr. Die Vornehmen kommen gleichwohl ſelten hin; ſie maßen ſich, hier wie andrer Orten, ihre beſonderen Privilegien an, die mehr der Bequemlichkeit als dem was ſie thun ſollten an- gemeſſen ſind. Dieſe Wallfahrten koͤnnen zu jeder Zeit geſchehen, gemeiniglich aber werden ſie in der ſchoͤnſten Jahrszeit, in den Fruͤhlingsmonathen, verrichtet. Eine ſolche Wallfahrt gethan haben, iſt verdienſtlich, und wirkt dem Pilgrim einen Ablaß fuͤr das ganze Jahr. Auf meiner Reiſe nach Jedo, ſah ich dergleichen Pilgrimme zu Tauſenden; oft waren ſie ſo arm, daß ſie unterweges ihr Brod betteln mußten. Dieſe arme Leute trugen nach Landesſitte
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Erſte Abtheilung. Zweyter Abſchnitt.
Einige Tempel ſind vor andern beſonders merk-
wuͤrdig, und zu ſolchen werden auch aus allen Provin-
zen des Reichs Wallfahrten, wie von den Muhamme-
danern nach Mekka, angeſtellt. Von dieſer Art iſt
vorzuͤglich der Tempel Iſie. Dieſer iſt dem aͤlteſten Gotte
des Landes, oder dem hoͤchſten himmliſchen Gotte, Ten-
ſio Dai Sin, geweihet, und der aͤlteſte im ganzen
Lande, aber auch der unanſehnlichſte, und jetzt vor
Alter dermaßen verfallen, daß er mit der groͤßten Sorg-
falt kaum noch vor dem voͤlligen Einſturze geſchuͤtzt wer-
den kann. In demſelben findet ſich nur ein Spiegel
und an den Waͤnden hie und da einige Streifen weiſſen
Papiers aufgehaͤngt, welches anzeigen ſoll, daß kein
Unreiner ſich dem Gotte naͤhern, oder ihm gefallen
kann, und daß das allſehende Auge alles ſieht. Der
Kaiſer, welcher dieſen Tempel nicht in eigner Perſon
beſuchen kann, fertigt jaͤhrlich im erſten Monathe eine
Geſandſchaft dahin ab. Alle Unterthanen, weß Al-
ters oder Geſchlechts ſie ſeyn moͤgen, ſind ſchuldig,
wenigſtens Einmal in ihrem Leben, eine Reiſe hieher zu
machen; viele machen ſie alle Jahr. Die Vornehmen
kommen gleichwohl ſelten hin; ſie maßen ſich, hier wie
andrer Orten, ihre beſonderen Privilegien an, die mehr
der Bequemlichkeit als dem was ſie thun ſollten an-
gemeſſen ſind. Dieſe Wallfahrten koͤnnen zu jeder
Zeit geſchehen, gemeiniglich aber werden ſie in
der ſchoͤnſten Jahrszeit, in den Fruͤhlingsmonathen,
verrichtet. Eine ſolche Wallfahrt gethan haben, iſt
verdienſtlich, und wirkt dem Pilgrim einen Ablaß fuͤr
das ganze Jahr. Auf meiner Reiſe nach Jedo, ſah
ich dergleichen Pilgrimme zu Tauſenden; oft waren
ſie ſo arm, daß ſie unterweges ihr Brod betteln
mußten. Dieſe arme Leute trugen nach Landesſitte
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Thunberg, Carl Peter: Reisen durch einen Theil von Europa, Afrika und Asien [...] in den Jahren 1770 bis 1779. Bd. 2. Übers. v. Christian Heinrich Groskurd. Berlin, 1794, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thunberg_reisen02_1794/308>, abgerufen am 23.11.2024.
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