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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Liebe anderer Menschen überhaupt.
ten/ mich in die gröste Gefahr begebe/ und mein
Leben drüber lasse/ bin ich nicht tollkühne sondern
großmüthig. Wenn ich umb meinen Freunde
gutes zuthun nach Ehren trachte/ bin ich nicht
Ehrgeitzig/ und wenn ich ihm zu liebe hohe
Ehrenstellen anschlage/ kan man mich keines
niederträchtigen Gemüths beschuldigen. Jn
der Liebe kommen alle Tugenden viel besser
zusammen/ als nach der gemeinen Rede in der
Gerechtigkeit. Allzugerecht ist schon unver-
nünfftig; Aber man kan des Guten so wenig als
der vernünfftigen Liebe zuviel thun.

65.

Aber ich höre gleichsam von ferne einen
Heuchler/ wider diesen unsern Lehr-Satz also
seufftzen: Du elender Mensch/ was gedenckest
du durch die vernünfftige Liebe der Menschen
die gröste Glückscligkeit zu erlangen. Die
Liebe Gottes ist die gröste Glückseligkeit/
und ihr muß alle Liebe zu den Menschen auff-
geopffert werden/ sie mag noch so vernünfftig
seyn als sie wolle. Und wie wolte demnach die
Liebe der Menschen der eintzige Wegzur Glück-
seligkeit seyn?

66.

Jedoch ist leichte hierauff zu antworten.
Wie kömmt es doch mein Freund/ daß du die
Liebe GOttes/ den du nicht siehest/ so sehr im
Munde führest/ und doch die Liebe des Men-
schen/ der deiner Liebe täglich bedarff/ gantz aus
deinen Hertzen verbannest. GOtt weiset dich
nach den Trieb natürlicher Vernunfft an die

Liebe

Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
ten/ mich in die groͤſte Gefahr begebe/ und mein
Leben druͤber laſſe/ bin ich nicht tollkuͤhne ſondern
großmuͤthig. Wenn ich umb meinen Freunde
gutes zuthun nach Ehren trachte/ bin ich nicht
Ehrgeitzig/ und wenn ich ihm zu liebe hohe
Ehrenſtellen anſchlage/ kan man mich keines
niedertraͤchtigen Gemuͤths beſchuldigen. Jn
der Liebe kommen alle Tugenden viel beſſer
zuſammen/ als nach der gemeinen Rede in der
Gerechtigkeit. Allzugerecht iſt ſchon unver-
nuͤnfftig; Aber man kan des Guten ſo wenig als
der vernuͤnfftigen Liebe zuviel thun.

65.

Aber ich hoͤre gleichſam von ferne einen
Heuchler/ wider dieſen unſern Lehr-Satz alſo
ſeufftzen: Du elender Menſch/ was gedenckeſt
du durch die vernuͤnfftige Liebe der Menſchen
die groͤſte Gluͤckſcligkeit zu erlangen. Die
Liebe Gottes iſt die groͤſte Gluͤckſeligkeit/
und ihr muß alle Liebe zu den Menſchen auff-
geopffert werden/ ſie mag noch ſo vernuͤnfftig
ſeyn als ſie wolle. Und wie wolte demnach die
Liebe der Menſchen der eintzige Wegzur Gluͤck-
ſeligkeit ſeyn?

66.

Jedoch iſt leichte hierauff zu antworten.
Wie koͤmmt es doch mein Freund/ daß du die
Liebe GOttes/ den du nicht ſieheſt/ ſo ſehr im
Munde fuͤhreſt/ und doch die Liebe des Men-
ſchen/ der deiner Liebe taͤglich bedarff/ gantz aus
deinen Hertzen verbanneſt. GOtt weiſet dich
nach den Trieb natuͤrlicher Vernunfft an die

Liebe
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[191/0223] Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt. ten/ mich in die groͤſte Gefahr begebe/ und mein Leben druͤber laſſe/ bin ich nicht tollkuͤhne ſondern großmuͤthig. Wenn ich umb meinen Freunde gutes zuthun nach Ehren trachte/ bin ich nicht Ehrgeitzig/ und wenn ich ihm zu liebe hohe Ehrenſtellen anſchlage/ kan man mich keines niedertraͤchtigen Gemuͤths beſchuldigen. Jn der Liebe kommen alle Tugenden viel beſſer zuſammen/ als nach der gemeinen Rede in der Gerechtigkeit. Allzugerecht iſt ſchon unver- nuͤnfftig; Aber man kan des Guten ſo wenig als der vernuͤnfftigen Liebe zuviel thun. 65. Aber ich hoͤre gleichſam von ferne einen Heuchler/ wider dieſen unſern Lehr-Satz alſo ſeufftzen: Du elender Menſch/ was gedenckeſt du durch die vernuͤnfftige Liebe der Menſchen die groͤſte Gluͤckſcligkeit zu erlangen. Die Liebe Gottes iſt die groͤſte Gluͤckſeligkeit/ und ihr muß alle Liebe zu den Menſchen auff- geopffert werden/ ſie mag noch ſo vernuͤnfftig ſeyn als ſie wolle. Und wie wolte demnach die Liebe der Menſchen der eintzige Wegzur Gluͤck- ſeligkeit ſeyn? 66. Jedoch iſt leichte hierauff zu antworten. Wie koͤmmt es doch mein Freund/ daß du die Liebe GOttes/ den du nicht ſieheſt/ ſo ſehr im Munde fuͤhreſt/ und doch die Liebe des Men- ſchen/ der deiner Liebe taͤglich bedarff/ gantz aus deinen Hertzen verbanneſt. GOtt weiſet dich nach den Trieb natuͤrlicher Vernunfft an die Liebe

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/223>, abgerufen am 24.11.2024.