Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

Unser Herr
ches darin so gleich erkennen mußte. Judas,
so sagte er nun, verräthest du des Menschen
Sohn mit einem Kuß?
-- Keinen Laut gab
Judas weiter von sich, keinen Schritt that er
weiter vorwärts, -- schon hatt er alles menschliche
Gefühl überschritten, und so wich er zurük zu den
Unmenschen, die schon als solche erscheinen wür-
den, wenn sie auch nur auf den wehrlosen Wei-
sen, nur auf den straflosen Bürger, einen solchen
nächtlichen Angrif gethan hätten. Sie haben
Jesum gesehen und gehört, sie wollen ihn grei-
fen, sie suchen ihn allenthalben, und können ihn
nicht finden, sie haben ihn gefunden, sie können
ihn greifen -- aber sie haben nicht den Muth.
Blinkte ihnen vielleicht das, schon gezogne,
Schwert des Petrus entgegen? Ach, was wollte
dieser einzelne mit seinem einzelnen Schwert, auch
wenn er das andre zur Hand nahm, was in der
ungelenksamen Hand eines bangen Jüngers stumpf
war? Wer hier das Schwert nahm, mußte
wohl durchs Schwert umkommen.
Also
wars eine unsichtbare Hand, die diese Verräther
des Verrathnen zurük hielt, die Hand an ihn zu
legen?

Glaub an diese Erscheinung und freu dich
ihrer, du, wehrlose Unschuld, und du, verfolgtes
Verdienst. Seis, daß auf ieden Schritt dir nach-
gestellt wird, daß eine ganze Bande dir auflauert,
daß schon dein Untergang in irgend einem hohen
Rath beschlossen, daß schon dein Verräther ge-
dungen ist; ist deine Unschuld nur rein, wie dein
Auge, ist dein Verdienst nur wahr, wie die That:

so

Unſer Herr
ches darin ſo gleich erkennen mußte. Judas,
ſo ſagte er nun, verrätheſt du des Menſchen
Sohn mit einem Kuß?
— Keinen Laut gab
Judas weiter von ſich, keinen Schritt that er
weiter vorwärts, — ſchon hatt er alles menſchliche
Gefühl überſchritten, und ſo wich er zurük zu den
Unmenſchen, die ſchon als ſolche erſcheinen wür-
den, wenn ſie auch nur auf den wehrloſen Wei-
ſen, nur auf den ſtrafloſen Bürger, einen ſolchen
nächtlichen Angrif gethan hätten. Sie haben
Jeſum geſehen und gehört, ſie wollen ihn grei-
fen, ſie ſuchen ihn allenthalben, und können ihn
nicht finden, ſie haben ihn gefunden, ſie können
ihn greifen — aber ſie haben nicht den Muth.
Blinkte ihnen vielleicht das, ſchon gezogne,
Schwert des Petrus entgegen? Ach, was wollte
dieſer einzelne mit ſeinem einzelnen Schwert, auch
wenn er das andre zur Hand nahm, was in der
ungelenkſamen Hand eines bangen Jüngers ſtumpf
war? Wer hier das Schwert nahm, mußte
wohl durchs Schwert umkommen.
Alſo
wars eine unſichtbare Hand, die dieſe Verräther
des Verrathnen zurük hielt, die Hand an ihn zu
legen?

Glaub an dieſe Erſcheinung und freu dich
ihrer, du, wehrloſe Unſchuld, und du, verfolgtes
Verdienſt. Seis, daß auf ieden Schritt dir nach-
geſtellt wird, daß eine ganze Bande dir auflauert,
daß ſchon dein Untergang in irgend einem hohen
Rath beſchloſſen, daß ſchon dein Verräther ge-
dungen iſt; iſt deine Unſchuld nur rein, wie dein
Auge, iſt dein Verdienſt nur wahr, wie die That:

ſo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0074" n="60"/><fw place="top" type="header">Un&#x017F;er Herr</fw><lb/>
ches darin &#x017F;o gleich erkennen mußte. <hi rendition="#fr">Judas,</hi><lb/>
&#x017F;o &#x017F;agte er nun, <hi rendition="#fr">verräthe&#x017F;t du des Men&#x017F;chen<lb/>
Sohn mit einem Kuß?</hi> &#x2014; Keinen Laut gab<lb/>
Judas weiter von &#x017F;ich, keinen Schritt that er<lb/>
weiter vorwärts, &#x2014; &#x017F;chon hatt er alles men&#x017F;chliche<lb/>
Gefühl über&#x017F;chritten, und &#x017F;o wich er zurük zu den<lb/>
Unmen&#x017F;chen, die &#x017F;chon als &#x017F;olche er&#x017F;cheinen wür-<lb/>
den, wenn &#x017F;ie auch nur auf den wehrlo&#x017F;en Wei-<lb/>
&#x017F;en, nur auf den &#x017F;traflo&#x017F;en Bürger, einen &#x017F;olchen<lb/>
nächtlichen Angrif gethan hätten. Sie haben<lb/>
Je&#x017F;um ge&#x017F;ehen und gehört, &#x017F;ie wollen ihn grei-<lb/>
fen, &#x017F;ie &#x017F;uchen ihn allenthalben, und können ihn<lb/>
nicht finden, <hi rendition="#fr">&#x017F;ie</hi> haben ihn gefunden, &#x017F;ie können<lb/>
ihn greifen &#x2014; aber &#x017F;ie haben nicht den Muth.<lb/>
Blinkte ihnen vielleicht das, &#x017F;chon gezogne,<lb/>
Schwert des Petrus entgegen? Ach, was wollte<lb/>
die&#x017F;er einzelne mit &#x017F;einem einzelnen Schwert, auch<lb/>
wenn er das andre zur Hand nahm, was in der<lb/>
ungelenk&#x017F;amen Hand eines bangen Jüngers &#x017F;tumpf<lb/>
war? <hi rendition="#fr">Wer hier das Schwert nahm, mußte<lb/>
wohl durchs Schwert umkommen.</hi> Al&#x017F;o<lb/>
wars eine un&#x017F;ichtbare Hand, die die&#x017F;e Verräther<lb/>
des Verrathnen zurük hielt, die Hand an ihn zu<lb/>
legen?</p><lb/>
        <p>Glaub an die&#x017F;e Er&#x017F;cheinung und freu dich<lb/>
ihrer, du, wehrlo&#x017F;e Un&#x017F;chuld, und du, verfolgtes<lb/>
Verdien&#x017F;t. Seis, daß auf ieden Schritt dir nach-<lb/>
ge&#x017F;tellt wird, daß eine ganze Bande dir auflauert,<lb/>
daß &#x017F;chon dein Untergang in irgend einem hohen<lb/>
Rath be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, daß &#x017F;chon dein Verräther ge-<lb/>
dungen i&#x017F;t; i&#x017F;t deine Un&#x017F;chuld nur rein, wie dein<lb/>
Auge, i&#x017F;t dein Verdien&#x017F;t nur wahr, wie die That:<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0074] Unſer Herr ches darin ſo gleich erkennen mußte. Judas, ſo ſagte er nun, verrätheſt du des Menſchen Sohn mit einem Kuß? — Keinen Laut gab Judas weiter von ſich, keinen Schritt that er weiter vorwärts, — ſchon hatt er alles menſchliche Gefühl überſchritten, und ſo wich er zurük zu den Unmenſchen, die ſchon als ſolche erſcheinen wür- den, wenn ſie auch nur auf den wehrloſen Wei- ſen, nur auf den ſtrafloſen Bürger, einen ſolchen nächtlichen Angrif gethan hätten. Sie haben Jeſum geſehen und gehört, ſie wollen ihn grei- fen, ſie ſuchen ihn allenthalben, und können ihn nicht finden, ſie haben ihn gefunden, ſie können ihn greifen — aber ſie haben nicht den Muth. Blinkte ihnen vielleicht das, ſchon gezogne, Schwert des Petrus entgegen? Ach, was wollte dieſer einzelne mit ſeinem einzelnen Schwert, auch wenn er das andre zur Hand nahm, was in der ungelenkſamen Hand eines bangen Jüngers ſtumpf war? Wer hier das Schwert nahm, mußte wohl durchs Schwert umkommen. Alſo wars eine unſichtbare Hand, die dieſe Verräther des Verrathnen zurük hielt, die Hand an ihn zu legen? Glaub an dieſe Erſcheinung und freu dich ihrer, du, wehrloſe Unſchuld, und du, verfolgtes Verdienſt. Seis, daß auf ieden Schritt dir nach- geſtellt wird, daß eine ganze Bande dir auflauert, daß ſchon dein Untergang in irgend einem hohen Rath beſchloſſen, daß ſchon dein Verräther ge- dungen iſt; iſt deine Unſchuld nur rein, wie dein Auge, iſt dein Verdienſt nur wahr, wie die That: ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/74
Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/74>, abgerufen am 24.11.2024.