Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.Unser Herr wir sie als bloße Thatsache betrachten. Judaswar einer aus den Zwölfen, also ein beständiger Zuhörer und Begleiter, ein eigentlicher Schüler oder Jünger Jesu. Er hatte von ihm nichts als Wahrheit und Tugend gehört, und, was noch weit mehr sagt, als dies, er hatte nichts als Wahrheit und Tugend an ihm gesehn: er hatte an iedem Tage, und mit iedem Tage deutlicher und heller, das Urbild aller menschlichen Vortref- lichkeit, und das Ebenbild aller göttlichen Größe, die auch nur auf reiner Güte beruht, in ihm er- blikt, erblikken müssen, wie scheel sein Aug auch sah; er war ein Augen- und Ohrenzeuge aller der großen Thaten Gottes, die des Menschen Sohn verrichtete, wie er mit einem Worte Blinde sehend, und Lahme gehend, Taube hörend und Stumme lehrend, Aussäzzige rein und Todte lebendig machte. Jesus hatt ihn auch nicht blos als Schüler behandelt, sondern, gleich den übri- gen Jüngern, zu seinem Apostel ernannt. Er hatt ihm auch einen besondern Beweiß seines Zu- trauens gegeben, indem er ihm die Verwaltung seiner kleinen gesellschaftlichen Kasse überlassen hatte, gewis, ohn ihm iemals Rechenschaft ab- zufodern. Judas hatte den Beutel, und trug, was gegeben ward. Schreklich ists, wenn man erwägt, wen Judas verrieth? seinen Meister, seinen Freund, seinen Wohlthäter, seinen Versor- ger, und, wenn er ihn auch nicht für den mensch- gewordnen Sohn Gottes, für den geistlichen Hei- land der Welt erkannte, wie ich nicht glauben kann, wenn er auch zu Zeiten, und besonders zu- lezt,
Unſer Herr wir ſie als bloße Thatſache betrachten. Judaswar einer aus den Zwölfen, alſo ein beſtändiger Zuhörer und Begleiter, ein eigentlicher Schüler oder Jünger Jeſu. Er hatte von ihm nichts als Wahrheit und Tugend gehört, und, was noch weit mehr ſagt, als dies, er hatte nichts als Wahrheit und Tugend an ihm geſehn: er hatte an iedem Tage, und mit iedem Tage deutlicher und heller, das Urbild aller menſchlichen Vortref- lichkeit, und das Ebenbild aller göttlichen Größe, die auch nur auf reiner Güte beruht, in ihm er- blikt, erblikken müſſen, wie ſcheel ſein Aug auch ſah; er war ein Augen- und Ohrenzeuge aller der großen Thaten Gottes, die des Menſchen Sohn verrichtete, wie er mit einem Worte Blinde ſehend, und Lahme gehend, Taube hörend und Stumme lehrend, Ausſäzzige rein und Todte lebendig machte. Jeſus hatt ihn auch nicht blos als Schüler behandelt, ſondern, gleich den übri- gen Jüngern, zu ſeinem Apoſtel ernannt. Er hatt ihm auch einen beſondern Beweiß ſeines Zu- trauens gegeben, indem er ihm die Verwaltung ſeiner kleinen geſellſchaftlichen Kaſſe überlaſſen hatte, gewis, ohn ihm iemals Rechenſchaft ab- zufodern. Judas hatte den Beutel, und trug, was gegeben ward. Schreklich iſts, wenn man erwägt, wen Judas verrieth? ſeinen Meiſter, ſeinen Freund, ſeinen Wohlthäter, ſeinen Verſor- ger, und, wenn er ihn auch nicht für den menſch- gewordnen Sohn Gottes, für den geiſtlichen Hei- land der Welt erkannte, wie ich nicht glauben kann, wenn er auch zu Zeiten, und beſonders zu- lezt,
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Unſer Herr
wir ſie als bloße Thatſache betrachten. Judas
war einer aus den Zwölfen, alſo ein beſtändiger
Zuhörer und Begleiter, ein eigentlicher Schüler
oder Jünger Jeſu. Er hatte von ihm nichts als
Wahrheit und Tugend gehört, und, was noch
weit mehr ſagt, als dies, er hatte nichts als
Wahrheit und Tugend an ihm geſehn: er hatte
an iedem Tage, und mit iedem Tage deutlicher
und heller, das Urbild aller menſchlichen Vortref-
lichkeit, und das Ebenbild aller göttlichen Größe,
die auch nur auf reiner Güte beruht, in ihm er-
blikt, erblikken müſſen, wie ſcheel ſein Aug auch
ſah; er war ein Augen- und Ohrenzeuge aller der
großen Thaten Gottes, die des Menſchen Sohn
verrichtete, wie er mit einem Worte Blinde
ſehend, und Lahme gehend, Taube hörend und
Stumme lehrend, Ausſäzzige rein und Todte
lebendig machte. Jeſus hatt ihn auch nicht blos
als Schüler behandelt, ſondern, gleich den übri-
gen Jüngern, zu ſeinem Apoſtel ernannt. Er
hatt ihm auch einen beſondern Beweiß ſeines Zu-
trauens gegeben, indem er ihm die Verwaltung
ſeiner kleinen geſellſchaftlichen Kaſſe überlaſſen
hatte, gewis, ohn ihm iemals Rechenſchaft ab-
zufodern. Judas hatte den Beutel, und trug,
was gegeben ward. Schreklich iſts, wenn man
erwägt, wen Judas verrieth? ſeinen Meiſter,
ſeinen Freund, ſeinen Wohlthäter, ſeinen Verſor-
ger, und, wenn er ihn auch nicht für den menſch-
gewordnen Sohn Gottes, für den geiſtlichen Hei-
land der Welt erkannte, wie ich nicht glauben
kann, wenn er auch zu Zeiten, und beſonders zu-
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