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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Beichtandachten.
Sie mein Nachdenken, das heut und morgen sich
ganz besonders mit dem menschlichen Leiden und
dem göttlichen Thun, mit dem irdischen Leben,
und dem himmlischen Herrschen unsers Herrn be-
schäftigen soll, leiten sie es genau auf die Punkte,
von welchen ich ausgehen muß, um es aus der
eigenthümlichsten Erfahrung zu wissen, Er
heile auch meine Gebrechen, und dieses Glau-
bens zu leben, bis ich sterbe.



Gebet
am Abend des Beichttags.

Odaß ich doch heut mit mehr Ruhe des Herzens und
Gewissens mich zur Ruhe begeben mögte, als ich sonst
wohl in meine Kammer brachte; daß ich doch izt Deines
Aufsehens werther sein mögte, mein himmlischer Vater,
als ichs sonst war, wenn ich mich dem Schlaf, nein,
wenn ich mich Dir, doch ohne zu wissen, daß ichs that,
in die Arme warf! Zum wenigsten hab ich heut mehr
die Gelegenheiten zum Bösen geflohn, mehr die Anlässe
zum Guten genuzt, öftrer und herzlicher an Dich ge-
dacht, liebreicher mein Betragen gegen andre eingerich-
tet, genauer meine Worte abgewogen, meine Schritte
abgemessen, nüzlicher mit mir selbst, eigentlicher mit
meinem Heiland, mich beschäftigt, als sonst manchen
Tag über, vielleicht manche Woche hindurch. Aber wie,
wenn in meinem heutigen Leben etwas Erkünsteltes ge-
wesen wäre, das nur auf meine morgende Andacht sich
bezöge, wenn ich mit der ernsten Stille, worin ich diesen
Tag zubrachte, mir einen, nach allen Neigungen meines
Herzens fühlbaren, Zwang angethan hätte, den ich mit
dem neuen Wochenleben wieder abzulegen schon heimlich
entschlossen wäre? O mit welchem Auge müßtest Du
dann mich ansehn, der du Greuel hast an den Fal-
schen!
wie gewis hätt ich dann heut gar nicht, oder mir
und andern nur die Schande der Heuchelei gebeichtet;

und

Beichtandachten.
Sie mein Nachdenken, das heut und morgen ſich
ganz beſonders mit dem menſchlichen Leiden und
dem göttlichen Thun, mit dem irdiſchen Leben,
und dem himmliſchen Herrſchen unſers Herrn be-
ſchäftigen ſoll, leiten ſie es genau auf die Punkte,
von welchen ich ausgehen muß, um es aus der
eigenthümlichſten Erfahrung zu wiſſen, Er
heile auch meine Gebrechen, und dieſes Glau-
bens zu leben, bis ich ſterbe.



Gebet
am Abend des Beichttags.

Odaß ich doch heut mit mehr Ruhe des Herzens und
Gewiſſens mich zur Ruhe begeben mögte, als ich ſonſt
wohl in meine Kammer brachte; daß ich doch izt Deines
Aufſehens werther ſein mögte, mein himmliſcher Vater,
als ichs ſonſt war, wenn ich mich dem Schlaf, nein,
wenn ich mich Dir, doch ohne zu wiſſen, daß ichs that,
in die Arme warf! Zum wenigſten hab ich heut mehr
die Gelegenheiten zum Böſen geflohn, mehr die Anläſſe
zum Guten genuzt, öftrer und herzlicher an Dich ge-
dacht, liebreicher mein Betragen gegen andre eingerich-
tet, genauer meine Worte abgewogen, meine Schritte
abgemeſſen, nüzlicher mit mir ſelbſt, eigentlicher mit
meinem Heiland, mich beſchäftigt, als ſonſt manchen
Tag über, vielleicht manche Woche hindurch. Aber wie,
wenn in meinem heutigen Leben etwas Erkünſteltes ge-
weſen wäre, das nur auf meine morgende Andacht ſich
bezöge, wenn ich mit der ernſten Stille, worin ich dieſen
Tag zubrachte, mir einen, nach allen Neigungen meines
Herzens fühlbaren, Zwang angethan hätte, den ich mit
dem neuen Wochenleben wieder abzulegen ſchon heimlich
entſchloſſen wäre? O mit welchem Auge müßteſt Du
dann mich anſehn, der du Greuel haſt an den Fal-
ſchen!
wie gewis hätt ich dann heut gar nicht, oder mir
und andern nur die Schande der Heuchelei gebeichtet;

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[196/0210] Beichtandachten. Sie mein Nachdenken, das heut und morgen ſich ganz beſonders mit dem menſchlichen Leiden und dem göttlichen Thun, mit dem irdiſchen Leben, und dem himmliſchen Herrſchen unſers Herrn be- ſchäftigen ſoll, leiten ſie es genau auf die Punkte, von welchen ich ausgehen muß, um es aus der eigenthümlichſten Erfahrung zu wiſſen, Er heile auch meine Gebrechen, und dieſes Glau- bens zu leben, bis ich ſterbe. Gebet am Abend des Beichttags. Odaß ich doch heut mit mehr Ruhe des Herzens und Gewiſſens mich zur Ruhe begeben mögte, als ich ſonſt wohl in meine Kammer brachte; daß ich doch izt Deines Aufſehens werther ſein mögte, mein himmliſcher Vater, als ichs ſonſt war, wenn ich mich dem Schlaf, nein, wenn ich mich Dir, doch ohne zu wiſſen, daß ichs that, in die Arme warf! Zum wenigſten hab ich heut mehr die Gelegenheiten zum Böſen geflohn, mehr die Anläſſe zum Guten genuzt, öftrer und herzlicher an Dich ge- dacht, liebreicher mein Betragen gegen andre eingerich- tet, genauer meine Worte abgewogen, meine Schritte abgemeſſen, nüzlicher mit mir ſelbſt, eigentlicher mit meinem Heiland, mich beſchäftigt, als ſonſt manchen Tag über, vielleicht manche Woche hindurch. Aber wie, wenn in meinem heutigen Leben etwas Erkünſteltes ge- weſen wäre, das nur auf meine morgende Andacht ſich bezöge, wenn ich mit der ernſten Stille, worin ich dieſen Tag zubrachte, mir einen, nach allen Neigungen meines Herzens fühlbaren, Zwang angethan hätte, den ich mit dem neuen Wochenleben wieder abzulegen ſchon heimlich entſchloſſen wäre? O mit welchem Auge müßteſt Du dann mich anſehn, der du Greuel haſt an den Fal- ſchen! wie gewis hätt ich dann heut gar nicht, oder mir und andern nur die Schande der Heuchelei gebeichtet; und

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/210>, abgerufen am 24.08.2024.