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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr,
Grab noch werden, und das drei ganzer Tage
und Nächte, so, als sei er von dem fürchterlich-
sten bösen Geiste aufs leibhafteste besessen gewe-
sen, oder so, als sei er in den Händen seiner
Freunde höchst unsicher, und als sei von diesen
allen der entschlossenste Betrug zu befürchten.

Mit solchen Gedanken gingen sie unter ein-
ander um, und mit solchen Schlüssen versammel-
ten sie sich bei dem Statthalter, und das thaten
sie gleich am andern Morgen, sogar am Sab-
bath. In iedem andern Falle würden sie dies
selbst für Sabbathsschändung erklärt haben, für
eine der ärgsten Verunreinigungen, an einem
solchen Tage, zu einem solchen Geschäft, bei einem
solchen Manne, von heidnischer Abkunft und
Sitte, zusammen zu kommen. Nur in diesem
Falle war ihnen nichts zu heilig, um der heillo-
sesten Wuth, der unersättlichsten Nachsucht die
möglichste Befriedigung zu verschaffen. Unmög-
lich konnten sie sich die lezte Nahrung derselben
versagen, wäre darüber auch mehr als ein Tittel
vom Gesez verlohren gegangen. So wenig Ruh
läßt also das böse Gewissen, auch bei aller Schein-
heiligkeit, mit welcher man sich sonst betrügt!

Eins, so lautete nun der Antrag, den sie dem
Statthalter thaten, eins hätten sie noch in Erin-
nerung zu bringen vergessen, was sie nicht wenig
beunruhige: es wäre ihnen nämlich beigefallen,
wie dieser, nun hingerichtete, Verführer (so be-
zeichneten
sie Jesum, statt ihn zu nennen,) wohl
ehe gesagt habe, er werde binnen drei Tagen wie-
der auferstehen. Daraus könne nun ein noch

är-

Unſer Herr,
Grab noch werden, und das drei ganzer Tage
und Nächte, ſo, als ſei er von dem fürchterlich-
ſten böſen Geiſte aufs leibhafteſte beſeſſen gewe-
ſen, oder ſo, als ſei er in den Händen ſeiner
Freunde höchſt unſicher, und als ſei von dieſen
allen der entſchloſſenſte Betrug zu befürchten.

Mit ſolchen Gedanken gingen ſie unter ein-
ander um, und mit ſolchen Schlüſſen verſammel-
ten ſie ſich bei dem Statthalter, und das thaten
ſie gleich am andern Morgen, ſogar am Sab-
bath. In iedem andern Falle würden ſie dies
ſelbſt für Sabbathsſchändung erklärt haben, für
eine der ärgſten Verunreinigungen, an einem
ſolchen Tage, zu einem ſolchen Geſchäft, bei einem
ſolchen Manne, von heidniſcher Abkunft und
Sitte, zuſammen zu kommen. Nur in dieſem
Falle war ihnen nichts zu heilig, um der heillo-
ſeſten Wuth, der unerſättlichſten Nachſucht die
möglichſte Befriedigung zu verſchaffen. Unmög-
lich konnten ſie ſich die lezte Nahrung derſelben
verſagen, wäre darüber auch mehr als ein Tittel
vom Geſez verlohren gegangen. So wenig Ruh
läßt alſo das böſe Gewiſſen, auch bei aller Schein-
heiligkeit, mit welcher man ſich ſonſt betrügt!

Eins, ſo lautete nun der Antrag, den ſie dem
Statthalter thaten, eins hätten ſie noch in Erin-
nerung zu bringen vergeſſen, was ſie nicht wenig
beunruhige: es wäre ihnen nämlich beigefallen,
wie dieſer, nun hingerichtete, Verführer (ſo be-
zeichneten
ſie Jeſum, ſtatt ihn zu nennen,) wohl
ehe geſagt habe, er werde binnen drei Tagen wie-
der auferſtehen. Daraus könne nun ein noch

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[120/0134] Unſer Herr, Grab noch werden, und das drei ganzer Tage und Nächte, ſo, als ſei er von dem fürchterlich- ſten böſen Geiſte aufs leibhafteſte beſeſſen gewe- ſen, oder ſo, als ſei er in den Händen ſeiner Freunde höchſt unſicher, und als ſei von dieſen allen der entſchloſſenſte Betrug zu befürchten. Mit ſolchen Gedanken gingen ſie unter ein- ander um, und mit ſolchen Schlüſſen verſammel- ten ſie ſich bei dem Statthalter, und das thaten ſie gleich am andern Morgen, ſogar am Sab- bath. In iedem andern Falle würden ſie dies ſelbſt für Sabbathsſchändung erklärt haben, für eine der ärgſten Verunreinigungen, an einem ſolchen Tage, zu einem ſolchen Geſchäft, bei einem ſolchen Manne, von heidniſcher Abkunft und Sitte, zuſammen zu kommen. Nur in dieſem Falle war ihnen nichts zu heilig, um der heillo- ſeſten Wuth, der unerſättlichſten Nachſucht die möglichſte Befriedigung zu verſchaffen. Unmög- lich konnten ſie ſich die lezte Nahrung derſelben verſagen, wäre darüber auch mehr als ein Tittel vom Geſez verlohren gegangen. So wenig Ruh läßt alſo das böſe Gewiſſen, auch bei aller Schein- heiligkeit, mit welcher man ſich ſonſt betrügt! Eins, ſo lautete nun der Antrag, den ſie dem Statthalter thaten, eins hätten ſie noch in Erin- nerung zu bringen vergeſſen, was ſie nicht wenig beunruhige: es wäre ihnen nämlich beigefallen, wie dieſer, nun hingerichtete, Verführer (ſo be- zeichneten ſie Jeſum, ſtatt ihn zu nennen,) wohl ehe geſagt habe, er werde binnen drei Tagen wie- der auferſtehen. Daraus könne nun ein noch är-

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/134>, abgerufen am 22.07.2024.