Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche Nikodemus in dem Garten Josephs, vermuthlich auch seines Freundes, an. Im Dunkeln war er einst bei Jesu gewesen, und ein dunkles Gespräch hatte Jesus mit ihm geführt. Doch war wohl schon damahls ein Lichtstrahl in seine reine Sele gefallen, der von Zeit zu Zeit seinen forschen- den Geist immer mehr erhellt, sein redliches Herz immer mehr erwärmt hatte, der vielleicht bei dem Tode Jesu und den merkwürdigen Um- ständen desselben bei ihm gegen Finsternis an- kämpfte, und ihm durch ein Gewölk von Zwei- feln, dann schwächer, dann stärker, herdurchschien. Auch er kam mit Specereien nach Josephs Gar- ten, so wie er gehört, vielleicht auch gesehn hatte, daß der Leichnam Jesu, den er wenigstens für nicht ganz schuldig, für nicht entehrt hielt, dort- hin gebracht worden sei, und er trug sie in Menge. Wie gewis wallfahrtete der alte Mann izt zu dem Grabe des Herrn; wie gewis waren seine Gedanken auf dem Wege, auch wenn sie sich durchkreuzten, auch wenn er sie nicht zu sammeln, vielweniger auszudrükken vermogte, wie gewis seine Empfindungen, auch wenn er ihrer nicht Herr ward, auch wenn eine die andre verfolgte, wie gewis waren sie alle -- Ein Gebet! Welch eine Gesellschaft um das Grab Jesu her! Wie fanden sich hier die guten Selen so unverabredet zusammen, unter nächtlichem Himmel und bei dem feierlichsten Schweigen der Natur! Und wie beredt war das Stillschweigen, womit sie kamen und gingen, wie sanft der Ausdruk des Kummers
und
Unſer Herr,
Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche Nikodemus in dem Garten Joſephs, vermuthlich auch ſeines Freundes, an. Im Dunkeln war er einſt bei Jeſu geweſen, und ein dunkles Geſpräch hatte Jeſus mit ihm geführt. Doch war wohl ſchon damahls ein Lichtſtrahl in ſeine reine Sele gefallen, der von Zeit zu Zeit ſeinen forſchen- den Geiſt immer mehr erhellt, ſein redliches Herz immer mehr erwärmt hatte, der vielleicht bei dem Tode Jeſu und den merkwürdigen Um- ſtänden deſſelben bei ihm gegen Finſternis an- kämpfte, und ihm durch ein Gewölk von Zwei- feln, dann ſchwächer, dann ſtärker, herdurchſchien. Auch er kam mit Specereien nach Joſephs Gar- ten, ſo wie er gehört, vielleicht auch geſehn hatte, daß der Leichnam Jeſu, den er wenigſtens für nicht ganz ſchuldig, für nicht entehrt hielt, dort- hin gebracht worden ſei, und er trug ſie in Menge. Wie gewis wallfahrtete der alte Mann izt zu dem Grabe des Herrn; wie gewis waren ſeine Gedanken auf dem Wege, auch wenn ſie ſich durchkreuzten, auch wenn er ſie nicht zu ſammeln, vielweniger auszudrükken vermogte, wie gewis ſeine Empfindungen, auch wenn er ihrer nicht Herr ward, auch wenn eine die andre verfolgte, wie gewis waren ſie alle — Ein Gebet! Welch eine Geſellſchaft um das Grab Jeſu her! Wie fanden ſich hier die guten Selen ſo unverabredet zuſammen, unter nächtlichem Himmel und bei dem feierlichſten Schweigen der Natur! Und wie beredt war das Stillſchweigen, womit ſie kamen und gingen, wie ſanft der Ausdruk des Kummers
und
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0132"n="118"/><fwplace="top"type="header">Unſer Herr,</fw><lb/><p>Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche<lb/>
Nikodemus in dem Garten Joſephs, vermuthlich<lb/>
auch ſeines Freundes, an. Im Dunkeln war er<lb/>
einſt bei Jeſu geweſen, und ein dunkles Geſpräch<lb/>
hatte Jeſus mit ihm geführt. Doch war wohl<lb/>ſchon damahls ein Lichtſtrahl in ſeine reine Sele<lb/>
gefallen, der von Zeit zu Zeit ſeinen forſchen-<lb/>
den Geiſt immer mehr erhellt, ſein redliches<lb/>
Herz immer mehr erwärmt hatte, der vielleicht<lb/>
bei dem Tode Jeſu und den merkwürdigen Um-<lb/>ſtänden deſſelben bei ihm gegen Finſternis an-<lb/>
kämpfte, und ihm durch ein Gewölk von Zwei-<lb/>
feln, dann ſchwächer, dann ſtärker, herdurchſchien.<lb/>
Auch er kam mit Specereien nach Joſephs Gar-<lb/>
ten, ſo wie er gehört, vielleicht auch geſehn hatte,<lb/>
daß der Leichnam Jeſu, den er wenigſtens für<lb/>
nicht ganz ſchuldig, für nicht entehrt hielt, dort-<lb/>
hin gebracht worden ſei, und er trug ſie in Menge.<lb/>
Wie gewis <hirendition="#fr">wallfahrtete</hi> der alte Mann izt zu<lb/>
dem Grabe des Herrn; wie gewis waren ſeine<lb/>
Gedanken auf dem Wege, auch wenn ſie ſich<lb/>
durchkreuzten, auch wenn er ſie nicht zu ſammeln,<lb/>
vielweniger auszudrükken vermogte, wie gewis<lb/>ſeine Empfindungen, auch wenn er ihrer nicht<lb/>
Herr ward, auch wenn eine die andre verfolgte,<lb/>
wie gewis waren ſie alle — Ein Gebet! Welch<lb/>
eine Geſellſchaft um das Grab Jeſu her! Wie<lb/>
fanden ſich hier die guten Selen ſo unverabredet<lb/>
zuſammen, unter nächtlichem Himmel und bei<lb/>
dem feierlichſten Schweigen der Natur! Und wie<lb/>
beredt war das Stillſchweigen, womit ſie kamen<lb/>
und gingen, wie ſanft der Ausdruk des Kummers<lb/><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[118/0132]
Unſer Herr,
Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche
Nikodemus in dem Garten Joſephs, vermuthlich
auch ſeines Freundes, an. Im Dunkeln war er
einſt bei Jeſu geweſen, und ein dunkles Geſpräch
hatte Jeſus mit ihm geführt. Doch war wohl
ſchon damahls ein Lichtſtrahl in ſeine reine Sele
gefallen, der von Zeit zu Zeit ſeinen forſchen-
den Geiſt immer mehr erhellt, ſein redliches
Herz immer mehr erwärmt hatte, der vielleicht
bei dem Tode Jeſu und den merkwürdigen Um-
ſtänden deſſelben bei ihm gegen Finſternis an-
kämpfte, und ihm durch ein Gewölk von Zwei-
feln, dann ſchwächer, dann ſtärker, herdurchſchien.
Auch er kam mit Specereien nach Joſephs Gar-
ten, ſo wie er gehört, vielleicht auch geſehn hatte,
daß der Leichnam Jeſu, den er wenigſtens für
nicht ganz ſchuldig, für nicht entehrt hielt, dort-
hin gebracht worden ſei, und er trug ſie in Menge.
Wie gewis wallfahrtete der alte Mann izt zu
dem Grabe des Herrn; wie gewis waren ſeine
Gedanken auf dem Wege, auch wenn ſie ſich
durchkreuzten, auch wenn er ſie nicht zu ſammeln,
vielweniger auszudrükken vermogte, wie gewis
ſeine Empfindungen, auch wenn er ihrer nicht
Herr ward, auch wenn eine die andre verfolgte,
wie gewis waren ſie alle — Ein Gebet! Welch
eine Geſellſchaft um das Grab Jeſu her! Wie
fanden ſich hier die guten Selen ſo unverabredet
zuſammen, unter nächtlichem Himmel und bei
dem feierlichſten Schweigen der Natur! Und wie
beredt war das Stillſchweigen, womit ſie kamen
und gingen, wie ſanft der Ausdruk des Kummers
und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/132>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.